
Liebe Freunde der Kunsthalle,
Liebe Eröffnungsgäste,
Hinter der Zahl 669 – es wurde bereits verraten – verbirgt sich ein Kirchenlied, und zwar „Aus meines Herzens Grunde“. Albert Coers, dessen Ausstellung wir heute Abend eröffnen, in unserem Ausstellungsraum C1 / See One, hat seine Buch-Installation „669 (aus meines Herzens Grunde)“ betitelt, aus einem sehr naheliegenden Grund, denn seine Skulptur setzt sich aus Büchern zusammen, genau genommen aus dem Gesangbuch „Gotteslob“. Albert Coers hat dieses Lied gewählt, nicht nur weil es einen schönen Text aufweist, sondern auch, weil ihm selbst das Arbeiten mit Büchern am Herzen liegt. Seine Installation kommt aus seines Herzens Grunde.

Das Objekt Buch ist seit mehr als zehn Jahren das künstlerische Material von Albert Coers. Die besonderen Eigenschaften von Büchern, von ganz bestimmten Büchern, liefern ihm als Künstler vielfach einen Grund, spielerisch und gestalterisch dieses Material zu erkunden und es genauestens in seinem Formvorrat zu beobachten, auch sich den Möglichkeiten der Konstruktion und den Bedingungen der Möglichkeit für eine Skulptur hinzugeben. Jede dieser Skulpturen realisiert er spezifisch für den Ort, an dem sie zu sehen sind– als Installation sind das alles mehr Modelle ihrer Möglichkeit als vollendete Werke.
Der Raum C 1 in der Kunsthalle Göppingen stellt da besondere Anforderungen. Die idealen Abmessungen, die Proportion von Höhe und Breite, beschreiben das, was man einen White Cube nennt, einen Raum mit Licht von oben und Wänden, die der Kunst die volle Aufmerksamkeit schenken. Es ist ein Ort der Konzentration. Und in den letzten Tagen hat sich Albert Coers in diesem Raum fast meditativ auf sein Material konzentriert, ist den räumlichen Vorgaben nachgegangen, hat geschichtet und gestapelt, hin und her getragen, ausprobiert und verworfen, sich umentschieden und mit der Zeit jene Strukturen gefunden, die sich jetzt in der einen Raumecke auftürmen, andernorts an die Wand lehnen oder wie heimlich im Rücken des Betrachters, der den Raum betritt, auf dem Boden zu sehen sind.
Da ist ein Turm, da ist eine Wand – und da sind viele Bücher, deren Geruch – muffig und von einer vergangenen Zeit erzählend – auch sinnlich den Raum füllen.

È una bella materia il libro
Albert Coers sagt treffend, dass seine Buch-Installation einfach der Anwesenheit von Büchern geschuldet ist. Denn es standen da gute drei Tonnen Bücher im Raum – herbeigeschafft aus vielen Orten, aus Ulm, Dillingen, Höchstädt und Günzburg. Die Gelegenheit war günstig, könnte man sagen. Denn als die Katholische Kirche sich dazu entschied, ihr Gesangbuch „Gotteslob“ in einer Neuauflage herauszubringen, bedeutete das eben auch, dass jenes Gesangbuch, das – übrigens wie Coers selbst – im Jahr 1975 das Licht der Welt erblickte, seine Funktion verlieren würde. Plötzlich wurden die in rotem Leinen, in dunkel- und orangerotem Plastik, in Braun und Grün eingebundenen Bücher überflüssig.
Bevor die alte Liedersammlung also verschwinden wird, widmet sich ihr mit aller Intensität der Künstler Albert Coers. Er nimmt sich dieser Masse an, erweckt sie zu einem neuen Leben, einem letzten Widerstand gegen den unvermeidlichen Abgesang, und transformiert das kirchliche Gesangbuch zu einem ästhetischen Kunstwerk.
Die Lust am Sammeln, der ephemere Charakter eines Gegenstands der verschwindet, aber auch die Faszination für eine schiere Masse, das alles sind Elemente, die den Bildhauer Coers besonders ansprechen. Zwar besteht immer die Gefahr, dass die Dynamik des Sammelns den Willen zur Ordnung und zum Strukturieren überholt, aber diese Gefahr macht auch den Reiz dieser Arbeiten aus.
Die Buch-Installationen von Albert Coers folgen dem Prinzip des Zusammenfügens von Vorgefundenem und Gesuchtem, und der Künstler wählt sein Material dabei nie zufällig aus. Es sind bestimmte Bücher mit bestimmten Eigenschaften, denen er sich annimmt, um daraus architektonische Strukturen wachsen zu lassen, die auf die räumlichen Gegebenheiten reagieren. Das materielle haptische Moment ist quasi der Wendepunkt, an dem sich das Buch zu einem ästhetischen Objekt transformiert, einem anderen Objekt, das nicht nur gelesen werden kann, sondern das ganz konkret – mit der Installation – auch eine visuelle Existenz hat.
So sind die Künstler, schreibt Coers (der auch als Kunst- und Literaturwissenschaftler tätig ist und über Ausstellungskataloge als Medium der zeitgenössischen Kunst promoviert hat) die größten Bibliophilen. „È una bella materia il libro ”, wie der italienische Schriftsteller Italo Calvino einen Künstler sagen läßt, der Skulpturen aus Büchern baut, in seinem Roman “Wenn ein Reisender in einer Winternacht”.
Werfen wir einen Blick in den Raum und auf die ästhetische Praxis. Schichtung, Stapelung und Schüttung sind die Prinzipien, die hier zur Anwendung gekommen sind. In der hinteren Ecke von C 1 türmt sich eine Skulptur in die Höhe. Durch Drehen und Wenden bildet sich eine konstruktive Struktur. Buch auf Buch, im 90° Winkel zueinander gefügt, stapeln sich zu einem Gebilde. Hier wird der Eindruck eines Gebäudes suggeriert. Zwischenräume sind sichtbar, das Ganze hat eine Transparenz in der Tiefe, dadurch, dass man hinter die Bücher und unter die Bücher schauen kann. Dieser Blick in die Tiefe, in die Zwischenräume, die da entstanden sind, verleiht der Buch-Skulptur eine starke räumliche Wirkung. Man ist an eine Stadt erinnert, eine alte Stadt, die aus einer Mitte heraus gewachsen ist, Schicht auch Schicht. Das Drehen und Wenden nimmt insgeheim Bezug auf die Ziffer 669. Denn die 6 und die 9 unterscheiden sich nur in der jeweiligen Drehung, was Oben ist und was Unten sein soll. 669 ist auch 699.
Tritt man als Betrachter unmittelbar vor den Haufen, ist die Masse fast drückend auf den eigenen Körper spürbar, auch das Heikle, ob es denn hält. Nun entdecken sich zahlreiche Feinheiten: alle Bucheinbände sind feste Bucheinbände. Sie haben eine gewisse Stabilität, eine Steifigkeit, die sich der Künstler zunutze gemacht hat. Wie Steine eines Mauerwerks lassen sich die Gesangbücher stapeln. Die Schnittkanten geben den Blick frei auf die Geschichte, auf die Vergangenheit eines jeden Buches. Stempel sind zu entdecken. Die Abnutzung ist an Verfärbungen auf dem Papier und an Einrissen der Seiten zu sehen. Die Lesebänder schauen heraus, meist vier an der Zahl und in allen Farben, in Rot, Gelb, Grün und Blau. Der Satz „Kirchliches Eigentum“ steht auf den Leinenrückseiten, und schaut man genau, bemerkt man, dass just das „Eigen“ vom „Eigentum“ abgerieben hat. Der Daumen dessen, der das Buch im Gottesdienst gehalten hat, lag wohl genau an dieser Stelle.

Überhaupt wird man sich jetzt erst bewusst, dass die Sammlung von Liedern in diesen Gesangbüchern ja noch da ist. Sie ist noch nicht verstummt, die Melodien und Lieder tönen mit ein bisschen Fantasie aus den Buchdeckeln heraus. Die Vorstellung von Musik, von Tönen verwandelt die sichtbare Struktur aus Zwischenräumen, die Albert Coers da in der Ecke aufgebaut hat. Wir sehen und hören einen Klangraum. Die Buch-Skulptur tritt uns plötzlich wie eine Orgel vor Augen, mit ihrer vertikalen Ausrichtung in die himmlische Höhe und mit ihrer pyramidalen Form. Es sind viele Stimmen. Das Kollektive des Gesangs lässt sich auch analog zu der Masse der Bücher verstehen. Aus dem Einzelnen bildet sich das Viele, das Viele kennt aber auch das Einzelne, denn die alten Bücher haben jedes für sich eine Geschichte. Und mit dieser Geschichte haben sie sich nach vierzig Jahren einen individuellen Charakter angeeignet. Jeder Sänger hat eine persönlich gefärbte Stimme, auch wenn im Kirchenraum alle das gleiche Lied singen und im Gesang eine Gemeinschaft bilden.

An der gegenüberliegenden Seite des Raums haben wir eine andere Struktur. Ganz anders lehnt sich hier eine Schichtung von Gesangbüchern an die Wand. Die Bücher schmiegen sich aneinander, sie verdichten sich zu einer Wand, die sich selbst trägt. Anders als bei der hohen Skulptur hat sich Coers hier jener Bände bedient, die einen weichen Einband haben. Die Weichheit bedingt die Neigung. Zu der einen Seite hin sind die einzelnen Bücher noch steil nach oben aufgestellt. Sie drücken sich gegen die Seitenwand des Raums, als ob sie nach dem überlebenswichtigen Gegenlager suchen. Dem architektonischen Gesichtspunkt der Konstruktion trägt Coers Skulptur Rechnung. Denn die spielerisch-leichtfüßige Schichtung soll zu der anderen Seite hin nicht wegrutschen. Deshalb baut Coers ein statisch wichtiges Gegengewicht, um dem Ganzen Halt zu geben. Einen Halt, der das ganze Wagnis jeden Konstruierens und Bauens eindrücklich als Bild festhält.
Solche Beobachtungen am Materialverhalten von Büchern gehen darüber hinaus, nur die formalen Eigenschaften wie Einband, Umfang oder Größe zu studieren. Albert Coers überführt das „Gotteslob“ zu neuen Formen und schenkt den Gesangbüchern so vor dem Verschwinden eine plastische Gestalt. In seiner Verarbeitung eignet er sich das bekannte, kanonisierte Werk an, ohne es jedoch auf den Aspekt zu reduzieren, dass das Buch als Baumaterial für objekhaft-skulpturale Körper dienen kann. Die am Boden aufgestellten Bücher geben zwar den Hinweis, dass man hier jederzeit weiterbauen könnte. Und so zeigen beide Skulpturen an der Wand und in der Raumecke eine Offenheit, die an das Assoziationsvermögen der Betrachter appelliert. Doch weist der Künstler auch darauf hin, dass eine Skulptur stets körperlich zu verstehen und zu erfahren ist. Sie fordert eine Anstrengung ein, sei es jener des Künstlers, der das Objekt gebaut hat, oder jener, die der Betrachter aufbringen muss.
Albert Coers sagt, dass Bücher die typische Eigenschaft haben, dass sie im Weg stehen. Wir stoßen auf sie, stolpern über sie, wir müssen sie vergegenwärtigen, wenn wir sie lesen, aber eben auch, wenn wir sie betrachten. Bücher vermitteln Bedeutung, sie verwahren das Wissen über Zeiten und Räume hinweg.
Ineinander verkeilt oder lose aufeinander gelegt eröffnen sie uns als Betrachtern aber auch neue Sichtweise auf die Wirklichkeit. Dies zeigen uns Coers riskante wie bizarre Kompositionen. Erinnern uns deren Strukturen unvermeidlich an Bauwerke, eröffnen sie uns bei längerer Betrachtung auch neue Gedanken. Sie machen uns aufmerksam. Dies auch umso mehr, als hier künstlerisch mit Materialien aus dem Alltag, mit Gebrauchsgegenständen gearbeitet wurde.
Dieses Merkmal ist sicherlich eine Gemeinsamkeit von beiden Ausstellungen, die wir heute eröffnen — von Vittorio Messina und Albert Coers. Ich bedanke mich bei den Künstlern für ihre anregenden Arbeiten. Zu verfolgen wie die jeweiligen Installationen hier vor Ort in der Kunsthalle Göppingen entstanden sind, ist ein besonderes Geschenk des kuratorischen Arbeitens.
Silke Schuck
Kunsthalle Göppingen, Sonntag, 06. April 2014, 18h
Eröffnung Albert Coers: 669 (aus meines Herzens Grunde)
Silke Schuck studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Romanistik und Komparatistik in Frankfurt/Main, Lausanne und Hamburg. Sie war Volontärin am Bucerius Kunst Forum Hamburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt mit dem Schwerpunkt Ästhetik, Kunsttheorie, Literatur und andere Künste im Vergleich, freie Mitarbeiterin am Städel Museum Frankfurt und an der Hamburger Kunsthalle. 2013–2014 war sie Ausstellungskuratorin für zeitgenössische Kunst an der Kunsthalle Göppingen und ab 2015 Leiterin der Galerie Stihl Waiblingen. Seit 2019 ist sie als Kuratorin im Atelier von Vera Röhm tätig.