Sil­ke Schuck: “È una bel­la mate­ria il libro” — Albert Coers: 669 (aus mei­nes Her­zens Grun­de), 2014

Lie­be Freun­de der Kunst­hal­le,
Lie­be Eröffnungsgäste,

Hin­ter der Zahl 669 – es wur­de bereits ver­ra­ten – ver­birgt sich ein Kir­chen­lied, und zwar „Aus mei­nes Her­zens Grun­de“. Albert Coers, des­sen Aus­stel­lung wir heu­te Abend eröff­nen, in unse­rem Aus­stel­lungs­raum C1 / See One, hat sei­ne Buch-Instal­la­ti­on „669 (aus mei­nes Her­zens Grun­de)“ beti­telt, aus einem sehr nahe­lie­gen­den Grund, denn sei­ne Skulp­tur setzt sich aus Büchern zusam­men, genau genom­men aus dem Gesang­buch „Got­tes­lob“. Albert Coers hat die­ses Lied gewählt, nicht nur weil es einen schö­nen Text auf­weist, son­dern auch, weil ihm selbst das Arbei­ten mit Büchern am Her­zen liegt. Sei­ne Instal­la­ti­on kommt aus sei­nes Her­zens Grunde.

Das Objekt Buch ist seit mehr als zehn Jah­ren das künst­le­ri­sche Mate­ri­al von Albert Coers. Die beson­de­ren Eigen­schaf­ten von Büchern, von ganz bestimm­ten Büchern, lie­fern ihm als Künst­ler viel­fach einen Grund, spie­le­risch und gestal­te­risch die­ses Mate­ri­al zu erkun­den und es genau­es­tens in sei­nem Form­vor­rat zu beob­ach­ten, auch sich den Mög­lich­kei­ten der Kon­struk­ti­on und den Bedin­gun­gen der Mög­lich­keit für eine Skulp­tur hin­zu­ge­ben. Jede die­ser Skulp­tu­ren rea­li­siert er spe­zi­fisch für den Ort, an dem sie zu sehen sind– als Instal­la­ti­on sind das alles mehr Model­le ihrer Mög­lich­keit als voll­ende­te Werke.

Der Raum C 1 in der Kunst­hal­le Göp­pin­gen stellt da beson­de­re Anfor­de­run­gen. Die idea­len Abmes­sun­gen, die Pro­por­ti­on von Höhe und Brei­te, beschrei­ben das, was man einen White Cube nennt, einen Raum mit Licht von oben und Wän­den, die der Kunst die vol­le Auf­merk­sam­keit schen­ken. Es ist ein Ort der Kon­zen­tra­ti­on. Und in den letz­ten Tagen hat sich Albert Coers in die­sem Raum fast medi­ta­tiv auf sein Mate­ri­al kon­zen­triert, ist den räum­li­chen Vor­ga­ben nach­ge­gan­gen, hat geschich­tet und gesta­pelt, hin und her getra­gen, aus­pro­biert und ver­wor­fen, sich ument­schie­den und mit der Zeit jene Struk­tu­ren gefun­den, die sich jetzt in der einen Raum­ecke auf­tür­men, andern­orts an die Wand leh­nen oder wie heim­lich im Rücken des Betrach­ters, der den Raum betritt, auf dem Boden zu sehen sind.

Da ist ein Turm, da ist eine Wand – und da sind vie­le Bücher, deren Geruch – muf­fig und von einer ver­gan­ge­nen Zeit erzäh­lend – auch sinn­lich den Raum füllen.

È una bel­la mate­ria il libro

Albert Coers sagt tref­fend, dass sei­ne Buch-Instal­la­ti­on ein­fach der Anwe­sen­heit von Büchern geschul­det ist. Denn es stan­den da gute drei Ton­nen Bücher im Raum – her­bei­ge­schafft aus vie­len Orten, aus Ulm, Dil­lin­gen, Höchstädt und Günz­burg. Die Gele­gen­heit war güns­tig, könn­te man sagen. Denn als die Katho­li­sche Kir­che sich dazu ent­schied, ihr Gesang­buch „Got­tes­lob“ in einer Neu­auf­la­ge her­aus­zu­brin­gen, bedeu­te­te das eben auch, dass jenes Gesang­buch, das – übri­gens wie Coers selbst – im Jahr 1975 das Licht der Welt erblick­te, sei­ne Funk­ti­on ver­lie­ren wür­de. Plötz­lich wur­den die in rotem Lei­nen, in dun­kel- und oran­ge­ro­tem Plas­tik, in Braun und Grün ein­ge­bun­de­nen Bücher überflüssig.

Bevor die alte Lie­der­samm­lung also ver­schwin­den wird, wid­met sich ihr mit aller Inten­si­tät der Künst­ler Albert Coers. Er nimmt sich die­ser Mas­se an, erweckt sie zu einem neu­en Leben, einem letz­ten Wider­stand gegen den unver­meid­li­chen Abge­sang, und trans­for­miert das kirch­li­che Gesang­buch zu einem ästhe­ti­schen Kunstwerk.

Die Lust am Sam­meln, der eph­eme­re Cha­rak­ter eines Gegen­stands der ver­schwin­det, aber auch die Fas­zi­na­ti­on für eine schie­re Mas­se, das alles sind Ele­men­te, die den Bild­hau­er Coers beson­ders anspre­chen. Zwar besteht immer die Gefahr, dass die Dyna­mik des Sam­melns den Wil­len zur Ord­nung und zum Struk­tu­rie­ren über­holt, aber die­se Gefahr macht auch den Reiz die­ser Arbei­ten aus.

Die Buch-Instal­la­tio­nen von Albert Coers fol­gen dem Prin­zip des Zusam­men­fü­gens von Vor­ge­fun­de­nem und Gesuch­tem, und der Künst­ler wählt sein Mate­ri­al dabei nie zufäl­lig aus. Es sind bestimm­te Bücher mit bestimm­ten Eigen­schaf­ten, denen er sich annimmt, um dar­aus archi­tek­to­ni­sche Struk­tu­ren wach­sen zu las­sen, die auf die räum­li­chen Gege­ben­hei­ten reagie­ren. Das mate­ri­el­le hap­ti­sche Moment ist qua­si der Wen­de­punkt, an dem sich das Buch  zu einem ästhe­ti­schen Objekt trans­for­miert, einem ande­ren Objekt, das nicht nur gele­sen wer­den kann, son­dern das ganz kon­kret – mit der Instal­la­ti­on – auch eine visu­el­le Exis­tenz hat.

So sind die Künst­ler, schreibt Coers (der auch als Kunst- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler tätig ist und über Aus­stel­lungs­ka­ta­lo­ge als Medi­um der zeit­ge­nös­si­schen Kunst pro­mo­viert hat) die größ­ten Biblio­phi­len. „È una bel­la mate­ria il libro ”, wie der ita­lie­ni­sche Schrift­stel­ler Italo Cal­vi­no einen Künst­ler sagen läßt, der Skulp­tu­ren aus Büchern baut, in sei­nem Roman “Wenn ein Rei­sen­der in einer Winternacht”. 

Wer­fen wir einen Blick in den Raum und auf die ästhe­ti­sche Pra­xis. Schich­tung, Sta­pe­lung und Schüt­tung sind die Prin­zi­pi­en, die hier zur Anwen­dung gekom­men sind. In der hin­te­ren Ecke von C 1 türmt sich eine Skulp­tur in die Höhe. Durch Dre­hen und Wen­den bil­det sich eine kon­struk­ti­ve Struk­tur. Buch auf Buch, im 90° Win­kel zuein­an­der gefügt, sta­peln sich zu einem Gebil­de. Hier wird der Ein­druck eines Gebäu­des sug­ge­riert. Zwi­schen­räu­me sind sicht­bar, das Gan­ze hat eine Trans­pa­renz in der Tie­fe, dadurch, dass man hin­ter die Bücher und unter die Bücher schau­en kann. Die­ser Blick in die Tie­fe, in die Zwi­schen­räu­me, die da ent­stan­den sind, ver­leiht der Buch-Skulp­tur eine star­ke räum­li­che Wir­kung. Man ist an eine Stadt erin­nert, eine alte Stadt, die aus einer Mit­te her­aus gewach­sen ist, Schicht auch Schicht. Das Dre­hen und Wen­den nimmt ins­ge­heim Bezug auf die Zif­fer 669. Denn die 6 und die 9 unter­schei­den sich nur in der jewei­li­gen Dre­hung, was Oben ist und was Unten sein soll. 669 ist auch 699.

Tritt man als Betrach­ter unmit­tel­bar vor den Hau­fen, ist die Mas­se fast drü­ckend auf den eige­nen Kör­per spür­bar, auch das Heik­le, ob es denn hält. Nun ent­de­cken sich zahl­rei­che Fein­hei­ten: alle Buch­ein­bän­de sind fes­te Buch­ein­bän­de. Sie haben eine gewis­se Sta­bi­li­tät, eine Stei­fig­keit, die sich der Künst­ler zunut­ze gemacht hat. Wie Stei­ne eines Mau­er­werks las­sen sich die Gesang­bü­cher sta­peln. Die Schnitt­kan­ten geben den Blick frei auf die Geschich­te, auf die Ver­gan­gen­heit eines jeden Buches. Stem­pel sind zu ent­de­cken. Die Abnut­zung ist an Ver­fär­bun­gen auf dem Papier und an Ein­ris­sen der Sei­ten zu sehen. Die Lese­bän­der schau­en her­aus, meist vier an der Zahl und in allen Far­ben, in Rot, Gelb, Grün und Blau. Der Satz „Kirch­li­ches Eigen­tum“ steht auf den Lei­nen­rück­sei­ten, und schaut man genau, bemerkt man, dass just das „Eigen“ vom „Eigen­tum“ abge­rie­ben hat. Der Dau­men des­sen, der das Buch im Got­tes­dienst gehal­ten hat, lag wohl genau an die­ser Stelle.

Über­haupt wird man sich jetzt erst bewusst, dass die Samm­lung von Lie­dern in die­sen Gesang­bü­chern ja noch da ist. Sie ist noch nicht ver­stummt, die Melo­dien und Lie­der tönen mit ein biss­chen Fan­ta­sie aus den Buch­de­ckeln her­aus. Die Vor­stel­lung von Musik, von Tönen ver­wan­delt die sicht­ba­re Struk­tur aus Zwi­schen­räu­men, die Albert Coers da in der Ecke auf­ge­baut hat. Wir sehen und hören einen Klang­raum. Die Buch-Skulp­tur tritt uns plötz­lich wie eine Orgel vor Augen, mit ihrer ver­ti­ka­len Aus­rich­tung in die himm­li­sche Höhe und mit ihrer pyra­mi­da­len Form. Es sind vie­le Stim­men. Das Kol­lek­ti­ve des Gesangs lässt sich auch ana­log zu der Mas­se der Bücher ver­ste­hen. Aus dem Ein­zel­nen bil­det sich das Vie­le, das Vie­le kennt aber auch das Ein­zel­ne, denn die alten Bücher haben jedes für sich eine Geschich­te. Und mit die­ser Geschich­te haben sie sich nach vier­zig Jah­ren einen indi­vi­du­el­len Cha­rak­ter ange­eig­net. Jeder Sän­ger hat eine per­sön­lich gefärb­te Stim­me, auch wenn im Kir­chen­raum alle das glei­che Lied sin­gen und im Gesang eine Gemein­schaft bilden.

An der gegen­über­lie­gen­den Sei­te des Raums haben wir eine ande­re Struk­tur. Ganz anders lehnt sich hier eine Schich­tung von Gesang­bü­chern an die Wand. Die Bücher schmie­gen sich anein­an­der, sie ver­dich­ten sich zu einer Wand, die sich selbst trägt. Anders als bei der hohen Skulp­tur hat sich Coers hier jener Bän­de bedient, die einen wei­chen Ein­band haben. Die Weich­heit bedingt die Nei­gung. Zu der einen Sei­te hin sind die ein­zel­nen Bücher noch steil nach oben auf­ge­stellt. Sie drü­cken sich gegen die Sei­ten­wand des Raums, als ob sie nach dem über­le­bens­wich­ti­gen Gegen­la­ger suchen. Dem archi­tek­to­ni­schen Gesichts­punkt der Kon­struk­ti­on trägt Coers Skulp­tur Rech­nung. Denn die spie­le­risch-leicht­fü­ßi­ge Schich­tung soll zu der ande­ren Sei­te hin nicht weg­rut­schen. Des­halb baut Coers ein sta­tisch wich­ti­ges Gegen­ge­wicht, um dem Gan­zen Halt zu geben. Einen Halt, der das gan­ze Wag­nis jeden Kon­stru­ie­rens und Bau­ens ein­drück­lich als Bild festhält.

Sol­che Beob­ach­tun­gen am Mate­ri­al­ver­hal­ten von Büchern gehen dar­über hin­aus, nur die for­ma­len Eigen­schaf­ten wie Ein­band, Umfang oder Grö­ße zu stu­die­ren. Albert Coers über­führt das „Got­tes­lob“ zu neu­en For­men und schenkt den Gesang­bü­chern so vor dem Ver­schwin­den eine plas­ti­sche Gestalt. In sei­ner Ver­ar­bei­tung eig­net er sich das bekann­te, kano­ni­sier­te Werk an, ohne es jedoch auf den Aspekt zu redu­zie­ren, dass das Buch als Bau­ma­te­ri­al für objek­haft-skulp­tu­ra­le Kör­per die­nen kann. Die am Boden auf­ge­stell­ten Bücher geben zwar den Hin­weis, dass man hier jeder­zeit wei­ter­bau­en könn­te. Und so zei­gen bei­de Skulp­tu­ren an der Wand und in der Raum­ecke eine Offen­heit, die an das Asso­zia­ti­ons­ver­mö­gen der Betrach­ter appel­liert. Doch weist der Künst­ler auch dar­auf hin, dass eine Skulp­tur stets kör­per­lich zu ver­ste­hen und zu erfah­ren ist. Sie for­dert eine Anstren­gung ein, sei es jener des Künst­lers, der das Objekt gebaut hat, oder jener, die der Betrach­ter auf­brin­gen muss.

Albert Coers sagt, dass Bücher die typi­sche Eigen­schaft haben, dass sie im Weg ste­hen. Wir sto­ßen auf sie, stol­pern über sie, wir müs­sen sie ver­ge­gen­wär­ti­gen, wenn wir sie lesen, aber eben auch, wenn wir sie betrach­ten. Bücher ver­mit­teln Bedeu­tung, sie ver­wah­ren das Wis­sen über Zei­ten und Räu­me hinweg.

Inein­an­der ver­keilt oder lose auf­ein­an­der gelegt eröff­nen sie uns als Betrach­tern aber auch neue Sicht­wei­se auf die Wirk­lich­keit. Dies zei­gen uns Coers ris­kan­te wie bizar­re Kom­po­si­tio­nen. Erin­nern uns deren Struk­tu­ren unver­meid­lich an Bau­wer­ke, eröff­nen sie uns bei län­ge­rer Betrach­tung auch neue Gedan­ken. Sie machen uns auf­merk­sam. Dies auch umso mehr, als hier künst­le­risch mit Mate­ria­li­en aus dem All­tag, mit Gebrauchs­ge­gen­stän­den gear­bei­tet wurde.

Die­ses Merk­mal ist sicher­lich eine Gemein­sam­keit von bei­den Aus­stel­lun­gen, die wir heu­te eröff­nen — von Vitto­rio Mes­si­na und Albert Coers. Ich bedan­ke mich bei den Künst­lern für ihre anre­gen­den Arbei­ten. Zu ver­fol­gen wie die jewei­li­gen Instal­la­tio­nen hier vor Ort in der Kunst­hal­le Göp­pin­gen ent­stan­den sind, ist ein beson­de­res Geschenk des kura­to­ri­schen Arbeitens.

Sil­ke Schuck

Kunst­hal­le Göp­pin­gen, Sonn­tag, 06. April 2014, 18h
Eröff­nung Albert Coers: 669 (aus mei­nes Her­zens Grunde)

Sil­ke Schuck stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Kunst­ge­schich­te, Roma­nis­tik und Kom­pa­ra­tis­tik in Frankfurt/Main, Lau­sanne und Ham­burg. Sie war Volon­tä­rin am Buce­ri­us Kunst Forum Ham­burg, wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin an der Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt mit dem Schwer­punkt Ästhe­tik, Kunst­theo­rie, Lite­ra­tur und ande­re Küns­te im Ver­gleich, freie Mit­ar­bei­te­rin am Stä­del Muse­um Frank­furt und an der Ham­bur­ger Kunst­hal­le. 2013–2014 war sie Aus­stel­lungs­ku­ra­to­rin für zeit­ge­nös­si­sche Kunst an der Kunst­hal­le Göp­pin­gen und ab 2015 Lei­te­rin der Gale­rie Stihl Waib­lin­gen. Seit 2019 ist sie als Kura­to­rin im Ate­lier von Vera Röhm tätig.