Wolf­gang Ull­rich: Ermüdet

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“Müde Bücher” nennt Albert Coers eine 2009 ent­stan­de­ne Foto­se­rie. Auf den Bil­dern sieht man jeweils ein Buch mit gebo­ge­nem Ein­band, ja buch­stäb­lich mit gekrümm­tem Rücken. Es sind Bücher, die nicht nur gele­sen, son­dern die gebraucht, benutzt, her­ge­nom­men wur­den. Tat­säch­lich ver­wen­de­te Coers sie davor für eine sei­ner Buch­skulp­tu­ren; sie waren Tei­le einer regel­rech­ten Buch­ar­chi­tek­tur, wie Zie­gel­stei­ne gesta­pelt und dazu da, tra­gen­de und stüt­zen­de Funk­tio­nen zu über­neh­men. Eben das aber hat sie um ihre äuße­re Unver­sehrt­heit gebracht.

Die Fotos ver­deut­li­chen dies im Stil einer Scha­den­sana­mne­se. Ihr sach­lich-doku­men­ta­ri­scher Cha­rak­ter erin­nert an wis­sen­schaft­li­che Auf­nah­men etwa aus der Patho­lo­gie: An ihnen las­sen sich Fehl­bil­dun­gen und Anoma­lien genau, mit ana­ly­ti­schem Blick, stu­die­ren. Da Coers aber bei­des ist, schul­dig an den Ver­seh­run­gen der Bücher sowie der­je­ni­ge, der ihre Defor­ma­tio­nen eigens sicht­bar macht, tritt er mit die­ser Foto­se­rie auch in Distanz zu sei­ner bild­haue­ri­schen Tätig­keit. Er bezieht eine selbst­kri­ti­sche, ja eine iro­ni­sche Posi­ti­on. Letz­te­res auch mit dem Titel der Serie, der über die ein­zel­nen abge­bil­de­ten Exem­pla­re hin­aus­weist. Müde sind die Bücher bei ihm näm­lich weni­ger von ihrer Ver­wen­dung in einer bestimm­ten Instal­la­ti­on, son­dern weil er seit etli­chen Jah­ren wie­der und immer wie­der mit ihnen arbei­tet. An ver­schie­de­nen Orten, für ganz unter­schied­li­che Anläs­se, in jeweils ande­ren For­ma­tio­nen baut er jedes Mal erneut eine Buch­skulp­tur. Die ein­zel­nen Bücher zeu­gen also sym­bo­lisch von einer wie­der­hol­ten Indienst­nah­me; sie sind müde wie Mate­ri­al, das über lan­ge Zeit hin­weg und zu oft im Ein­satz war. 

Macht Albert Coers hier also einen Man­gel eige­ner Ideen zum The­ma? Bringt er gar Über­druß an sei­ner Arbeit zum Aus­druck? Oder beklagt er sich, daß man als Künst­ler ein wie­der­erkenn­ba­res Mar­ken­zei­chen braucht, um sich auf dem Markt durch­set­zen zu kön­nen? Doch da dies durch etli­che Kar­rie­ren gera­de von Bild­hau­ern in den letz­ten Jah­ren wider­legt wur­de, die sich durch eine sehr abwechs­lungs­rei­che, von Werk zu Werk unvor­her­seh­ba­re For­men- und Mate­ri­al­spra­che her­vor­ge­tan haben, ist wahr­schein­li­cher, daß Coers auf etwas ande­res zielt. Das wird klar, wenn man dar­auf ach­tet, was für Bücher bei ihm müde sind. Es sind Titel und Aus­ga­ben, wie man sie vor allem in bil­dungs­bür­ger­li­chen Haus­hal­ten antrifft: Wer­ke zur Kunst- und Kul­tur­ge­schich­te, Bild­bän­de, Edi­tio­nen von Klas­si­kern, alles gedie­gen gebun­den, ja geprägt vom Stolz eines Milieus, das sich über Wis­sen, Geschmack und intel­lek­tu­el­le Ansprü­che definiert.

Könn­te Coers für sei­ne Instal­la­tio­nen auch Kri­mis, Gro­schen­ro­ma­ne oder Rei­se­füh­rer benut­zen, so bekommt es eine sen­ti­men­ta­le Dimen­si­on, wenn er dafür Iden­ti­fi­ka­ti­ons­sym­bo­le einer sozia­len Schicht ver­wen­det, die sich ohne­hin bereits im Nie­der­gang begrif­fen fühlt. Immer­hin hält sich jede Gene­ra­ti­on von Bil­dungs­bür­gern – nun schon seit fast zwei Jahr­hun­der­ten – für die letz­te, und jede ist sehr leicht davon zu über­zeu­gen, daß es bald ganz vor­bei sein wird mit dem Lesen, mit der Hoch­kul­tur, mit jeg­li­cher Form geis­ti­gen Lebens. Mit sei­nen Instal­la­tio­nen, die Bücher zu blo­ßem Mate­ri­al degra­die­ren, sowie mit sei­nen Fotos, die Zeug­nis­se einer Erschöp­fung dar­stel­len, greift Coers also die bil­dungs­bür­ger­li­che Unter­gangs­angst auf, die er, selbst Ange­hö­ri­ger des­sel­ben Milieus, genau ken­nen­ge­lernt hat. Und viel­leicht ist das der eigent­lich iro­ni­sche Cha­rak­ter sei­ner Arbeit: Sie spielt mit die­ser Angst – leis­tet ihr Vor­schub, bekennt sie, reflek­tiert dar­über. Als Künst­ler bemüht sich Albert Coers um nichts weni­ger als um Mög­lich­kei­ten, frei damit umzu­ge­hen. Und zugleich könn­te man sei­ne vie­len Vari­an­ten des­sel­ben Typs von Bücher-Instal­la­ti­on als Beweis dafür neh­men, daß er davon nicht los­kommt. Oder beab­sich­tigt er, sich die­se Angst so lan­ge vor­zu­neh­men, bis sie selbst ermü­det ist?

Wolf­gang Ull­rich, geb. 1967. Stu­di­um der Phi­lo­so­phie, Kunst­ge­schich­te, Wis­sen­schafts­theo­rie und Ger­ma­nis­tik. Frei­be­ruf­lich tätig als Autor, Dozent, Unter­neh­mens­be­ra­ter. Assis­tent an der AdbK Mün­chen. Gast­pro­fes­sor an der HdbK Ham­burg, 2006 bis 2015 Pro­fes­sor für Kunst­wis­sen­schaft und Medi­en­theo­rie an der Staat­li­chen Hoch­schu­le für Gestal­tung Karls­ru­he. Seit­her frei­be­ruf­lich tätig in Leip­zig als Autor, Kul­tur­wis­sen­schaft­ler und Bera­ter. Publi­ka­tio­nen zu Geschich­te und Kri­tik des Kunst­be­griffs, moder­nen Bild­wel­ten und bild­so­zio­lo­gi­schen Fra­gen sowie zu Wohlstandsphänomenen. 

Albert Coers: I SOLI­TI TITO­LI, 2009

Tired

‘Tired books’ is the name of a series of pho­to­graphs from 2009 by Albert Coers. Each pho­to­graph shows a book with a war­ped cover; lite­ral­ly with a cur­ved back. They are books they have not only been read, but that are used, second hand and the worse for wear. Coers had pre­vious­ly used them for one of his book sculp­tures. They were in fact part of a com­ple­te book archi­tec­tu­re; like piled bricks, whe­re their func­tion was as a weight bea­ring struc­tu­re. It was inde­ed this that gave them their appearance. 

The pho­to­graphs illus­tra­te this through pro­du­cing a record of dama­ge. Their docu­men­ta­ry cha­rac­ter is remi­nis­cent of sci­en­ti­fic records, per­haps from patho­lo­gy, allo­wing detail­ed stu­dy of the errors and anoma­lies with an ana­ly­ti­cal eye. Howe­ver, as Coers is both respon­si­ble the dama­ge and the per­son who makes this defor­ma­ti­on visi­ble, with this pho­to­gra­phic series he takes a step away from his sculp­tu­ral acti­vi­ty. He takes on a self cri­ti­cal, iro­nic posi­ti­on, with the series title making refe­ren­ces bey­ond the indi­vi­du­al spe­ci­mens shown. Coers’ books are not tired becau­se of their use in a par­ti­cu­lar instal­la­ti­on, but becau­se he has been working with them for many years. Coers builds a new book sculp­tu­re every time; in various places, with dif­fe­rent start­ing points, and each time in a dif­fe­rent con­stel­la­ti­on. The indi­vi­du­al books sym­bo­li­cal­ly wit­ness the repea­ted com­mis­sio­ning; they are tired like mate­ri­al that has been deploy­ed over an exten­ded peri­od and too often. 

Does this mean that Coers has a lack of his own ide­as on this sub­ject at this point? Is he even hin­ting at a cer­tain level of tedi­um with his work? Is he taking excep­ti­on to the fact that artists need a reco­g­nisable brand in order to be able to estab­lish them­sel­ves on the mar­ket? As this has been dis­pro­ven with the care­ers of various sculp­tors over recent years, who have excel­led with a very varied and unpre­dic­ta­ble form and mate­ri­al lan­guage, it seems more likely that Coers has other inten­ti­ons. This beco­mes clea­rer, when one looks at just which books it is that are tired. They tend to be titles and edi­ti­ons that one finds first and fore­most in midd­le class, edu­ca­ted homes: works about art and the histo­ry of art, cof­fee table books, edi­ti­ons of clas­sics, all beau­tiful­ly bound, all touch­ed by the pri­de of a class which defi­nes its­elf by its know­ledge, tas­te and intellec­tu­al standards.

Coers could take mur­der mys­te­ries, dime novels or gui­de books for his instal­la­ti­ons, but making the sel­ec­tion he does, they take on a sen­ti­men­tal dimen­si­on, while using the iden­ti­fi­ca­ti­on sym­bols of a social class which alre­a­dy finds its­elf in the throws of decli­ne. For near­ly two hundred years, every gene­ra­ti­on of the edu­ca­ted midd­le clas­ses has never been far from the con­vic­tion that all too soon rea­ding, high cul­tu­re and every form of intellec­tu­al way of life will end. With his instal­la­ti­ons that degra­de books into not­hing more than a mate­ri­al, and the pho­to­graphs which wit­ness their exhaus­ti­on, Coers deals with the fear of decli­ne of the edu­ca­ted midd­le clas­ses, to which he hims­elf belongs and has beco­me well acquain­ted with. And may­be that is whe­re the iro­ny in his works lies; play­ing with this fear, fee­ding it, reco­g­nis­ing it and reflec­ting on it. As an artist, Albert Coers cares about no less than the pos­si­bi­li­ty of coping with this free­ly. Simul­ta­neous­ly one could take his num­e­rous varia­ti­ons of the same type of book instal­la­ti­on as pro­of of his dif­fi­cul­ty in moving bey­ond this. Or, is his inten­ti­on to take this fear so far until it its­elf is tired?

Wolf­gang Ull­rich, born 1967. Stu­di­ed Phi­lo­so­phy, Histo­ry of Art, Theo­ry of Sci­ence and Ger­man Lite­ra­tu­re. Free­lan­ce aut­hor, con­sul­tant, lec­tu­rer. Assistant tea­cher at the AdbK Munich, visi­ting pro­fes­sor at the HdbK Ham­burg, 2006–2015 pro­fes­sor for Sci­ence of Art and Theo­ry of the Media at the HfG Karls­ru­he. Publi­ca­ti­ons on histo­ry and cri­ti­cism of the con­cept of art, and ques­ti­ons regar­ding the socio­lo­gy of images, on phe­no­me­na of prosperity.