Auf der Galerie über dem großen Wechselausstellungssaal des Kunstmuseums wird der ORTOBOTANICO durch die BIBLIOTECA BOTANICA ergänzt. Sie stammt von Albert Coers, einem ehemaligen Studenten Albert Hiens, der an der Münchener Kunstakademie Bildhauerei lehrt. Die BIBLIOTECA BOTANICA ist als buchmediales Gegenstück zum ORTOBOTANICO konzipiert. Denn so wie ein botanischer Garten der Aneignung, Ordnung und Nutzbarmachung der Natur dient, so dient eine botanische Bibliothek der Aneignung, Ordnung und Nutzbarmachung des Wissens über die pflanzliche Natur. Diesen Wissensaspekt macht Albert Coers, der in den letzten Jahren durch mehrere Buchprojekte aufgefallen ist, dadurch sichtbar, dass er tatsächlich genutzte Bücher verwendet. Für seine BIBLIOTECA BOTANICA hat er aus den öffentlichen Büchereien in und um Heidenheim fast tausend Bücher ausgeliehen, um sie im Kunstmuseum auf neue Art und Weise zusammenzustellen.
Die Nutzung öffentlicher Bibliotheken führt zu interessanten Ergebnissen. Denn bei seinen Streifzügen durch die aktuellen Wissensspeicher stieß Albert Coers nicht nur auf Biologiebücher, sondern noch häufiger auf literarische Buchtitel mit Bezügen zur Pflanzenwelt. Dabei reicht das Spektrum von Autorennamen wie Helmut Kohl, Vicki Baum, Paul Klee oder René Magritte usw., über einschlägige Buchtitel wie Wilder Ingwer, Das Palmenhaus, Der Blumenkrieg bis zu metaphorischen Titeln wie Astern im Frost (von Anne Birk), Zeit des Jasmin oder Der Glückspilz. Die Lektüre der Buchtitel zeigt dem Betrachter also, wie präsent und vielfältig die pflanzliche Natur in unserem Weltwissen und Weltbild ist. Dies bedeutet aber trotzdem nicht, dass das Pflanzenbild, das uns die Bücher vermitteln, weniger kulturell geprägt wäre, als das Pflanzenbild, das uns die Bilder vermitteln. So sind die Pflanzennamen und ‑titel häufig nichts anderes als Metaphern für ganz und gar menschliche Bedürfnisse und Probleme.
Die Frage, wie Albert Coers BIBLIOTECA BOTANICA zu Albert Hiens ORTOBOTANICO inhaltlich passt, lässt sich also leicht beantworten. Beide spiegeln die menschliche Nutzung der Natur: einmal im Medium einer musealen Inszenierung, einmal im Medium des Buches, das – auch im Zeitalter von Computer und Internet — noch immer der bedeutendste und nachhaltigste Wissens- und Kulturspeicher ist.
Die Verbindung der Buchkultur mit der Bilderwelt stellt Albert Coers aber nicht nur inhaltlich, sondern auch künstlerisch her. Hierfür nutzt er die Bücher als skulpturales Rohmaterial, um aus ihnen bildliche Metaphern für die pflanzliche Natur zu formen. Da Bücher stets die gleiche Grundform haben, sind die Möglichkeiten materialadäquater Gestaltungen jedoch eng begrenzt. Bücher zu benutzen, um aus ihnen möglichst abbildhafte Skulpturen zu formen, kommt für den Künstler nicht in Frage. Statt dessen lässt er sie in jenem skulpturalen Kontext, in dem sie als Speichermedien selbst gespeichert werden, d. h. er lässt sie im Regal.
Indem er – wie im Kabinettraum zu sehen – Regalbretter jedoch nicht waagerecht, sondern schräg stellt, verwandelt er das Speichergestell samt Büchern selbst in ein Bild. Die schräg gestellten Bretter erinnern an die Rippen von Blättern, die gesamte Regalkonstruktion sieht selbst wie eine Baumkrone aus. So stellt er auf formal gleichermaßen einfache wie konsequente Weise eine strukturelle Verwandtschaft zwischen den Botanikbüchern im weitesten Sinne und der pflanzlichen Natur selbst her. Zugleich bleibt die Verbindung dieser hier in einem künstlerischen Kontext verwendeten Bücher mit ihrer ursprünglichen Funktion bestehen, denn man kann sie herausnehmen und in ihnen lesen. Diese Funktion reicht dabei sogar bis an ihren Ursprungsort zurück. Denn in den Bibliotheken hat er an die Stelle der Bücher, die er für seine Installation verwendet, grüne Stellvertreterkarten gestellt. D. h. in den Regalen der beteiligten Bibliotheken wuchern diese grünen Karten jetzt wie Unkraut in den Regalen. Aber eben als ein Unkraut, dessen Standort – wie sich das für Bibliotheken gehört – jederzeit wieder finden lässt.
Aus: René Hirner (Hg.): Albert Hien: ORTOBOTANICO / Albert Coers: BIBLIOTECA BOTANICA, Kunstmuseum Heidenheim 2006, o.S.