7.2., Freitag Venedig-Nachtrag
Bevor die Erinnerung verschwindet, ein Rückblick auf die Fahrt nach Venedig:
In aller früh stehen wir dafür auf, bereits um 6 Uhr. Diesmal schaffen wir es, im Gegensatz zur letzten Italienfahrt, nach Rom, wo der Zug in Innsbruck stehenblieb. Ankunft nachmittags, gegen 15 Uhr, in Mestre – der Zug fährt aus welchen Gründen immer, nur bis hierher. Mit einem Regionalzug weiter, über die Lagune. Der Himmel verhangen.
Gleich nach der Ankunft in der Libreria dei Miracoli, mit waagrecht gestapelten Bänden, jedes Buch in eine Folientasche eingepackt. Werde auf Englisch angesprochen, was mich stört. Aber klar, mit Rucksack, dann der Phänotyp…
Kaufe einen Paperino-Comic und ein Buch über Venedig, „Report. Venezia sull’orizzonte degli eventi“, von Renato Pestriniero.
Zur Unterkunft, ein Air BNB in Canareggio;Calle Corrente, Nähe der Strada Nuova; typisch venezianisch, Erdgeschoss, niedrig, mit dicken Balken an der Decke, und, prominent, mit einer Säule im Raum. Links vom Eingang eine Abtrennung aus Glas, in Metallrahmen, Art-Deco. Der Terrazzoboden ist kühl, deshalb lege ich Bücher über Venedig, Fotobände, Führer etc. als Trittsteine darauf. So kommt man vom Tisch zum Kühlschrank und zum Herd. Eine spontane Installation.
Wir entdecken „Alexa“, die Konversationspartnerin und Helferin. Italienische Schlager von Fabrizio de André etc. lassen wir sie abspielen. Sie macht dann einfach weiter und spielt ähnliches. „Alexa, basta!“ muss ich irgendwann deutlich sagen, damit sie wieder aufhört. Die Geschichte vom Zauberlehrling fällt mir ein.
8.2., Samstag
Zum nahegelegenen Palazzo Giorgio Franchetti. Spektakulärer Innenhof mit Stein-Intarsien am Boden. Das ist so ein Moment, wo ich mich kaum fassen kann vor Begeisterung. Stendhal-Syndrom. Dann das Museum mit viel mittelalterlicher Malerei und dem Balkon, von dem man auf den Canale Grande hinaussieht. Ein ganz besonderer Ort.
Überfahrt zum Friedhof von S. Michele. Kurzer, aber intensiver Aufenthalt. Die Ausdehnung noch nie so deutlich gespürt. Im Kreuzgang, der ziemlich leer und wenig besucht ist.
Nach einigem Suchen und an der Mauer Umhergehen das Grab von Joseph Brodsky. Interessant der „Briefkasten“, in dem Botschaften an die Verstorbenen abgelegt sind, meist an Brodsky, darunter auch viel in kyrillischer Schrift.
Kaufe sein Buch über Venedig später in der Libreria Acqua Alta.
Um diese Jahreszeit keine Mosquitos, die uns beim letzten Besuch im Sommer fast aufgefressen haben. Jetzt aber auch im „modernen“ Teil, den David Chipperfield saniert hat. Strenge graue Betonwände- und Streben, erinnert an japanische Kiesgärten. Die langen Urnenzeilen wie Appartements in Hochhäusern. Auf jeder Urne ein Photo – was in Deutschland viel weniger verbreitet ist. Erstaunlich der informelle Charakter vieler Bilder, die doch für den Toten das letzte, repräsentative, bleibende sind, zumindest hier auf dem Friedhof: teils unscharf, dann in freizeitlichen Situationen, z.B. mit Weinglas, dem Betrachter gleichsam zuprostend; Das wirkt teils skurril, teils aber auch sympathisch. Mache einige Photos; denke auch an eine größer angelegte Serie und an ein Buch aus diesen Bildern. Man könnte sich auf einen Bildtyp konzentrieren, vielleicht den der unscharfen Bilder ….
Abends Film im Cinema Garibaldi: „The Brutalist“. Hervorragender Adrien Brody, der alle Stimmungsschwankungen des Protagonisten sehr glaubhaft spielt. Doch insgesamt prätentiös, pathetisch. Das Kreuz, das durch Negativraum gebildet wird – das Licht, das in den Raum fällt. Das wäre richtigen Bauhäuslern alles zu viel gewesen, glaube ich. Und es wird eigentlich nicht richtig über Architektur diskutiert. Außer manchmal über Raumhöhen von 15 Meter – und die Einwände der Ingenieure, die auf Einsparungen drängen.
Die symbolistisch raunenden Szenen in den Bergen und Steinbrüchen von Carrara – große Bilder, Freude des Wiedererkennens – aber dann wieder peinliches Pathos, auch in der Schlussequenz, beim Rennen durch den Bau.
In „Report“, im Kapitel “Messaggi”, über Schriften im öffentlichen Raum, offizielle und nicht-offizielle. Interessanterweise auch über Straßennamen, die häufig in einer Mischung aus Hochitalienisch und Dialekt geschrieben sind.
Mario Stefani: „La solitudine non è essere soli, è amare gli altri inutilmente”, was anonyme Hände an mehrern Stellen in Venedig an Bauzäune schrieben – eine schöne Verbreitung von Poesie.
Mahlerklänge von Alexa beim Einschlummern.
9.2., Sonntag
Zum Ca’ Pesaro, Wunderkammer-Ausstellung im Palazzo Grimani. Hier hatte ich die Ausstellung von Baselitz gesehen. Seine Bilder in den Flächen zwischen den Fenstern sind noch da.
10.2., Montag
Spät auf, fühle mich etwas krank; im Bett Lektüre, Josephs Brodskys Ankunft in Venedig, im Winter „molte lune fa“. Der Geruch von Algen bei Temperaturen unter Null für ihn ein Glückserlebnis. Kann ich nachvollziehen.
In die libreria Damocle, nicht weit vom Rialto. War schon dort, aber das Wiederfinden in der Calle del Perdon nicht so einfach. Das erste Mal im Laden. Schöne Auswahl an zwei- und mehrsprachigen Texten: Poes „The Raven“ in mehreren Sprachen, ein Gedicht von Leopardi („naufragio…“), u.a. von Rilke und Heyse übersetzt.
Kaufe drei kleine Bücher, ein Manifest zur futuristischen Sprache von Marinetti, Briefe von Italo Svevo an seine Frau, eine Erzählung der Brüder Goncourt aus Venedig, bei der ein Gemälde geraubt wird.
Gute Unterhaltung mit Pierpaolo Pregnolati über seine Aktivitäten, u.a. als Typograph. Er hat sich russische Lettern aus Litauen schicken lassen, wo man sie gerne losgeworden ist, und hat daraus einige Wörter gedruckt, die in der russischen Literatur spezifisch vorkommen, etwa bei Dostojewski.
In den neuen Teil Venedigs, zur Universität, wo auch die Architekturfakultät untergebracht ist. E. hat sich dort Pläne und Unterlagen des Architekten Eugenio Miozzi vorlegen lassen, der in den 50er/60er Jahren viel für Venedig geplant hat – unter anderem die autorimessa Sant’Andrea am Piazzale Roma, dieses Parkhaus im Bauhaus-Stil. Die Ponte della Libertà, parallel zur Eisenbahnbrücke geht auf ihn zurück, ebenso andere Brücken in Venedig, z.B. die ponte degli Scalzi, gegenüber vom Bahnhof, und die Holzbrücke della Accademia. Er hatte auch vorgeschlagen, Venedig an das Autobahnnetz anzuschließen, mit einem Tunnelring unter dem Meer – was zum Glück nie verwirklicht wurde, damals aber als Schritt Venedigs heraus aus seiner Isolation und Anschluss an die Moderne gesehen wurde.
Laufe durch den Campus; die umgebauten alten Lagerhallen und Werften. Sieht alles sehr funktional aus, aber auch anonym. Wieder an Autos vorbeizugehen, ist ein Schritt der Rückkehr zum Festland. In ein Gebäude von internationalen Stipendiaten, auf der Suche nach einem Ort, wo ich mich hinsetzen und etwas lesen kann. Die Bibliothek, auf die ein Schild vielversprechend verweist. aber nur mit Schlüssel zugänglich. Fensterlose Flure und Treppenhäuser. Schließlich zum appuntamento mit E. in der Cafeteria. Wir fühlen uns wieder ganz studentisch.
Zum Piazzale Roma; das Parkhaus sehr beeindruckend; E. erzählt, dass eine Kollonade geplant war, den Platz umfassend, dem Neoklassizismus/Faschismus der 1930er Jahre geschuldet. Erstaunlich, was alles (zum Glück aus heutiger Sicht) nicht gebaut wurde in Venedig.
Das Parkhaus mit der elegant-minimalistischen Schraubenrampe beeindruckend. Aufs Dach, mit gutem Blick auf die Stadt. Möwen landen neben uns auf der Mauer.
Ins Café der autorimessa im Souterrain. Dunkel, die Zeit scheint in den 50er/60ern stehengeblieben.
Noch einmal Essengehen; in ein Lokal in der Nähe der Strada Nuova. Man zahlt etwas mehr, aber dafür angenehme Atmosphäre, Mischung aus italienischen Gästen und Touristen. Auch hier Einrichtung über Jahrzehnte hin unverändert; Auf Borden sparsam einige Bildbände; umlaufende Metallstange.
Noch ein Spaziergang, auch, um unsere wenigen Abfälle zu entsorgen; vergebliche Such nach dem Müllbot, das wir im Plan der Unterkunft eingezeichnet finden. Schließlich lassen wir den kleinen Sack in einem der wenigen öffentlichen Mülleimer, am Campo dei Gesuiti, gegenüber der Polizeistation.
12.2., Mittwoch
Nachts wenig Schlaf, Husten, Schwitzen; dazu Lärm aus der Wohnung über uns. Ganz gerädert, als der Wecker läutet. Dann, einmal aufgestanden, geht es. Musik diesmal Dvorak; Alexa versteht „Dworschak“ erstmal nicht. Postkarten an Michael Dax, Carla u. Josef Mayerhofer.
Insgesamt angenehme Fahrt im Zug der ÖBB. Während der Fahrt Arbeit an den Bildern für den Ordner für die Archiv-Ausstellung im ZI.
Vieles, was sich unmittelbar gar nicht verwerten lässt – aber viel Zeit braucht und wovon man einen steifen Nacken bekommt. Wie ich gerade.
15.2., Samstag
Anmeldung/Bewerbung für die Miss Read. Briefwahl – die ich dann auch zum Briefkasten bringe.
Entwurf für den Wikipedia-Artikel über Albert Weis – schicke ihn ihm endlich. Die Beschreibung seiner Arbeiten scheint mir nicht sehr inspiriert, zusammenkopiert aus anderen Texten – aber eine gute Grundlage. Ich werde sie noch einmal überarbeiten.
16.2., Sonntag
Von Oleksiy Koval kommt auf facebook eine Replik zum Post über den Cimitero San Michele und Brodskys Grab dort – ein kritischer Artikel über den Schriftsteller und seine zweifelhafte politische Haltung, inklusive abfälliger Äußerungen gegenüber der Ukraine. Das nimmt aber nichts von seinem Werk, finde ich.
In Brodskys Venedig-Buch. Über die Löwen, die geflügelten, als Emblem Venedigs – und seine Umdeutung als Pegasus.
Angenehm, so unter der Bettdecke, während es draußen schneit.
Abends in die Villa Stuck, Hank op de Beek führt durch die Ausstellung. Immer noch sehr witzig, die Bilder. Zum Vortrag über Malewitsch bleibe ich dann aber doch nicht.