3.5.2024 — 15.9.2024
Museum Villa Stuck, München
Albert Coers: “MUSTEREXEMPLAR”.
Mit dieser Serie testet sich Albert Coers durch die Produktpalette einer führenden deutschen Online-Druckerei. Aus den zur Verfügung stehenden Papiersorten für Umschlag und Innenteil einer 64-seitigen, klammergehefteten A5-Broschüre (matt, glänzend, nachhaltig, gestrichen, veredelt) ergeben sich insgesamt 55 Kombinationen, von denen Coers nacheinander jeweils ein kostenloses Probeexemplar bestellt.
Die Aussagekraft eines solchen Probeexemplars ist naturgemäß begrenzt. Wie schon Dear Lulu gezeigt hat, sind solche Testergebnisse kaum verallgemeinerbar, da bei Print-on-Demand jeder Druckauftrag zu einem anderen Zeitpunkt, mit einer anderen Maschine und möglicherweise an einem anderen Produktionsstandort ausgeführt wird. Daher ist letztlich jedes Exemplar ein Unikat, das nur für sich selbst stehen kann.
Aber um einen solchen Test der Druckqualität ging es Coers auch nur am Rande. Sonst hatte er die Seiten seiner Broschüre nicht völlig leer gelassen. Ziel der Aktion war es eher, die Betriebsabläufe und Kosten-Nutzen-Rechnung einer Online-Druckerei zu erforschen und solange Probeexemplare zu bestellen, bis die Druckerei die Produktion irgendwann verweigern würde.
Wider Erwarten wurden aber alle 55 Bestellungen ausgeführt und ausgeliefert. Das deutet darauf hin, dass solche Probeexemplare im Auftragsvolumen des Unternehmens kaum zu Buche schlagen. Außerdem wird die Möglichkeit einer Erschleichung und Weiterverwendung der Probedrucke (was etwa der Surfaces Utiles-Verleger Olivier Bertrand tatsächlich eine Zeitlang erfolgreich praktiziert hat) dadurch ausgehebelt, dass jede Seite des Probedrucks automatisch mit dem schräg über die Seiten laufenden, überdimensionierten Wort „Musterexemplar“ versehen wird. Symbolisch manifestiert sich diese ‚Entwertung‘ des Papiers besonders deutlich in den Exemplaren auf dünnem Papier, wo der Aufdruck von der Rückseite durchscheint. Die sich kreuzenden Schriftzüge ergeben ein raumfüllendes „X“, das seinerseits noch einmal dezidiert die Seiten ausstreicht und für ungültig erklärt.
Damit aber sind Coers Broschüren nicht länger leer. Die Textproduktion wird an den Drucker delegiert, woraus sich eine Art automatisch generierter konkreter Poesie ergibt. Das seitenfüllende Wort gibt der Serien gleich auch ihren Titel, der auf Front- und Backcover vom Namen des Künstlers gerahmt wird, der sich damit selbst zum Musterexemplar eines Autors deklariert.
Jedes Probeexemplar kommt in seiner originalen Verpackung mit Lieferschein, der vom Künstler signiert und datiert wird. Auf diese Weise kommt das gesamte Ökosystem samt Versand und Logistik in den Blick, in das die Online-Druckereien eingebunden sind.
Text: Annette Gilbert
With this series, Albert Coers tests the product range of a leading German online print shop. The available paper types (matt, glossy, sustainable, coated, refined, etc.) for the cover and inner section of a 64-page, staple-stitched A5 brochure result in a total of 55 combinations, each of which Coers orders one free sample copy in turn.
The informative value of such a sample copy is naturally limited. As Dear Lulu has shown, the test results cannot be generalized since with print on demand every print job takes place at a different time, with a different machine, and potentially at a different production site. In the end, every copy is unique and can only stand for itself.
But Coers was only marginally interested in such a quality test. Otherwise he would not have left the pages of his brochure completely blank. The aim of the project was rather to research the operational processes and cost-benefit calculation of an online print shop and to order sample copies until the print shop would refuse production at some point.
Contrary to expectations, however, all 55 orders were filled and delivered. This suggests that such sample copies barely make a dent in the company‘s order volume. In addition, the possibility of fraudulent use of the samples (a strategy that publisher Olivier Bertrand, for example, actually applied for a while) is prevented by the fact that each page is marked with the oversized word “MUSTEREXEMPLAR” (sample copy) running diagonally across the page. This “devaluation” of the paper also becomes manifest in a symbolic way in the sample copies on thin paper, where the letters show through from the back of the page. The intersecting lines result in a space-filling “X,” which for its part crosses out the pages once again and declares them worthless. This means that Coers’ brochures are no longer empty when printed. The text production is delegated to the printer, provoking a kind of automatically generated concrete poetry. The page-filling word also provides the title of the series, which is framed on the front and back by the artist‘s name, who is thus himself declared to be a model specimen of an author. The sample copies are numbered and come in their original packaging with the delivery bill signed and dated by the artist. In this way, the entire ecosystem, including logistics and shipping, in which online print shops operate becomes visible and the subject of the series.
Text: Annette Gilbert
Print-on-Demand hat die Welt der Bücher revolutioniert: Seit Anfang des Jahrtausends treffen immer bessere und günstigere Digitaldruckverfahren auf die Möglichkeiten des globalen Online-Handels. Daraus entsteht eine Produktionsmethode, bei der Bücher nicht mehr auf Vorrat vervielfältigt werden. Sie werden erst gedruckt, wenn konkreter Bedarf besteht: „on demand“, also auf Nachfrage.
Digitale Plattformen wie Kindle Direct Publishing, Blurb oder Lulu prägen aktuell die Produktion von Books-on-Demand im Selfpublishing-Segment. So wird es prinzipiell allen ermöglicht, ihre Arbeiten sofort und weltweit zu publizieren, ohne dafür auf einen Verlag angewiesen zu sein und ohne große finanzielle Risiken eingehen zu müssen. Die Bücher lassen sich mit wenigen Klicks erstellen und in den globalen Buchhandel einspeisen. Dies eröffnet einen Raum voller Möglichkeiten jenseits des klassischen Buchmarkts und trägt zur Demokratisierung der Produktion bei. Dabei werden etablierte Gatekeeper umgangen und alte Wertzuschreibungen aufgehoben; zugleich entstehen aber neue Abhängigkeiten, etwa von den Plattformen und deren Vorgaben und Interessen.
Vielfach beklagt wird auch der inhaltliche Qualitätsverlust, wenn alle alles drucken können. Zudem sind Digitaldruck und Bindung häufig nicht hochwertig, und die Fehlerquote in der vollautomatisierten Produktion ist recht hoch. Im Gegenzug ermöglichen die Print-on-Demand-Plattformen Teilhabe und Experiment und öffnen das Buch für neue Anwendungs- und Denkbereiche. Diese Dynamik hat eine lebendige Subkultur im Bereich künstlerischen Publizierens entstehen lassen, die das Medium Buch auf der Suche nach möglichen Inhalten, Ästhetiken, Materialitäten, Ökonomien und Öffentlichkeiten neu auslotet, gleichzeitig unsere digitale Gegenwart kritisch hinterfragt und verhandelt.
Die Bücher zeigen, wie sich diese innovativen Produktions- und Publikationsbedingungen kreativ nutzen lassen, dabei aber auch explorativ eingesetzt und differenziert reflektiert werden. Zugleich demonstrieren sie die ungebrochene Strahlkraft und Relevanz des gedruckten Buchs.
Kontext
Die „Library of Artistic Print on Demand“ kartografiert mit 244 Titeln erstmals dieses Experimentierfeld. Sie erkundet dessen globale Verbreitung, historische Tiefe und politische Relevanz. Alle Publikationen sind in einem Webarchiv umfassend dokumentiert zugänglich. Seit 2024 werden all diese Bücher von der Bayerischen Staatsbibliothek (Künstlerbuchsammlung) in physischer Form bewahrt und können dort im Lesesaal eingesehen werden. Ein umfassender Katalog mit Aufsätzen von Personen aus Theorie und Praxis erscheint bei Spector Books, Leipzig.
Die „Library of Artistic Print on Demand“ geht auf ein Forschungsprojekt von Annette Gilbert und Andreas Bülhoff an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zurück (2019–2022). Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Auswahl der XX hier versammelten und einsehbaren Bücher kuratierte Annette Gilbert. In jedem Exemplar befinden sich Zettel mit der Beschreibung des jeweiligen Projekts auf Deutsch und Englisch.
Weitere Informationen finden Sie auf www.apod.li
Bibliotheken zu Gast in der Goethestraße
Diese Bibliothek bildet den Auftakt einer Reihe von Sabine Schmid, in der verschiedene Bücher-Sammlungen in der Goethestraße 54 zu Gast sind. Auf bestimmte Themen und Fragen fokussiert, laden sie zum Lesen ein und fragen: Was kann eine Bibliothek sein? Wie kommt ein Buch in eine Bibliothek? Welche Sinnzusammenhänge können hergestellt werden? Öffentliche Bibliotheken als Gedächtnisinstitutionen und als von physischer Präsenz geprägte Orte im digitalen Zeitalter lassen auch über Veränderung im Umgang mit und in der Nutzung von Büchern als Objekte und Bibliotheken als Räume nachdenken.
Bei verschiedenen Veranstaltungen und Projekten wird über einzelne Aspekte der jeweiligen Bibliotheken gesprochen und diskutiert.
VS
[Das Interimsquartier des Museums Villa Stuck, ab 3. Mai 2024]
Goethestraße 54
D‑80336 München
www.villastuck.de