Installation aus Atlanten einer Berner Schule
16.10. – 31.10.2015
Kunstraum “9a am Stauffacherplatz”, 3014 Bern/CH
www.9a-stauffacherplatz.ch
Ansprache zur Eröffnung von Bertrand Knobel, Rektor Gymnasium Muristalden, Bern:
„Schweizer Weltatlas“. Welch seltsames Wortgebilde! – In einem Weltatlas ist die ganze Welt in nuce wiedergegeben. Was hat das mit der Schweiz zu tun? Warum „Schweizer Weltatlas“ und nicht einfach nur „Weltatlas“? Sind es Bilder der Welt für die Schweiz? Oder geht es um das Bild, welches die Schweiz sich von der Welt macht? Und wenn ja, von welcher Schweiz genau? – Atlanten, als Bild-Welt, widerspiegeln ja immer auch ein Weltbild.
„Schweizer Weltatlas“. Die Schweiz als Nabel der Welt? Schweiz ist überall. Der kleinste Ausstellungsraum der Stadt Bern, das „9a am Stauffacherplatz“, als weltumfassender Raum? Wollte uns Albert Coers mit seiner originellen Atlanten-Installation so etwas suggerieren?
Begonnen hat ja alles mit einem kleinen Missverständnis. Der Muristalden, die Schule, an der ich angestellt bin und von der die Atlanten, mit denen Coers gearbeitet hat, stammen, ist dafür bekannt, die älteste und kompletteste historische Lehrmittel-Sammlung der Schweiz, ja vielleicht Europas, zu haben. Als mich Stefan Hofmann fragte, ob ich zur kommenden Vernissage etwas sagen könnte, da ein Künstler mit alten Lehrmitteln unserer Schule eine Installation machen würde, traf mich fast der Schlag. Bis ich begriff, dass es nicht um die wertvolle Sammlung ging, sondern um ausrangierte Lehrmittel und Atlanten. Und jetzt, wenn ich die Installation anschaue, muss ich Albert Coers dankbar sein, dass er uns um unsere Atlas-Altlast erleichtert hat. Die jahrzehntelang in einem Keller vor sich hinschlummernden Atlanten wurden zu neuem Leben erweckt und zu Kunstobjekten erhoben.
Ich sehe die Installation jetzt zum ersten Mal und versuche meine Eindrücke zu beschreiben:
Bücher, zu einer Art Berglandschaft geschichtet, die an die geologischen Schichtungen unserer Berge und Alpen erinnern. Bücherberge, Bücherfelsen. Eine überraschende Vielfalt von Einzelstrukturen tut sich vor meinem Auge auf, komplex miteinander verschachtelte Bücherhaufen, wirr und geordnet zugleich, ästhetisch aufgetürmt. Die Grundbewegung der Schichtung ist aufstrebend, verschiedene Gipfel bildend. Wie eine nachgebildete Alpenfaltung kommt mir die Installation vor, als sich die afrikanische Kontinentalplatte im Tertiär unter die europäische Platte schob, die bis dahin flach übereinander liegenden Gesteinsschichten in die Vertikale drückte und diese krachend auseinanderbrachen, das Alpenmassiv bildend. An der linken Wand ragt der Bücherberg fast bis an die Decke, als wollte er diese stützen. Man denkt unweigerlich an die mythologische Figur des Atlas, welcher nach dem verlorenen Titankampf dazu verurteilt wurde, den ganzen Kosmos zu tragen. Dies, um Himmel und Welt zu trennen, weil es die Erdgöttin Gaia satt hatte, in ihrer urweltlichen Umklammerung mit dem Himmel andauernd von Uranos, dem Himmelsgott, vergewaltigt zu werden. Das imposante, im Nordwesten Afrikas liegende Atlasgebirge erinnert uns noch heute an dieses kosmische Geschehen.
Erstes Fazit: In der Atlas-Installation findet eine Art Umkehrprozess statt: Haben die Atlanten reale, dreidimensionale Landschaften auf die simple Zweidimensionalität von Karten reduziert, so gibt Coers dem abgebildeten Raum, indem er die Atlanten zu einer Landschaftsform schichtet, seine Dreidimensionalität zurück. Und er holt damit das sinnlich Fassbare, das die Atlanten in ihrer Funktion als Kartenbücher verbannt haben, in die Realität zurück.
Eine zweite Assoziation ergibt sich in Bezug auf die Vergänglichkeit von Lehrmitteln, insbesondere von Atlanten. Sie sind, in unserem Zeitalter der Digitalisierung, eine aussterbende Spezies von Büchern. Den „Schweizer Weltatlas“ gibt es seit längerer Zeit elektronisch, mit Animationen und attraktiven interaktiven Elementen. Als Buchform braucht es ihn nicht mehr.
Auch die modernen Navigationsgeräte machen Karten und Atlanten überflüssig. Das Navi zeigt uns den Weg von A nach Z, ohne dass wir uns im Raum noch orientieren müssen. Seit sie aufgekommen sind, können wir immer weniger Karten lesen. Wir orientieren uns auch kaum mehr im Raum, wie man das mit Karten tun kann, und brauchen das Orientierungsmittel „Atlas“ nicht mehr. Ist das ein Grund, weshalb Coers sie in seiner eindrücklichen Installation zu Kunstobjekten werden lässt?
Trotz ihres Aussterbens haben mich Atlanten immer fasziniert. Oder vielleicht gerade deswegen. Schon als Kind liebte ich es, in ihnen zu schmökern und mich in immer neue geographische Räume und Länder zu begeben. Blätternd fiktiv, mit dem Finger imaginäre Reisen zeichnend. Es gibt Namen, die einen träumen lassen. Honolulu, Papua Neuguinea zum Beispiel, oder Ouagadougou. Wie sieht eine Stadt aus, die so heisst? – Und man braucht gar nicht so weit zu gehen. Auch im Atlas der Schweiz findet man witzige Namen: Witzwil z.B., Bitsch, Geiss, Tinizong, Rotzenwil, Finsterhennen. Oder Hosenruck, Arschwald…
Atlanten sind der Stoff, aus dem Träume entstehen können, der Stoff, mit dem sich neue Möglichkeiten auftun. Mit Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ könnte man sagen, dass sie ein Lehrmittel sind, das, wie kein anderes, den Möglichkeitssinn schult.
Atlanten stehen aber auch für das Gegenteil des Möglichkeitssinns: Für die genaue Festlegung dessen, was ist. Sie zeichnen die Grenzen und machen sie fest. Atlanten sind ein Instrument der Vermessung der Welt. Sichtbarer Ausdruck unserer vermessenen Vorstellung, die Welt überhaupt vermessen zu können. Instrumente unseres Weltzugriffs. Unserer Dominanz ihr gegenüber. So drückt die Schweiz im Begriff „Schweizer Weltatlas“ der Welt ihren Stempel auf. Die von der Schweiz vermessene und in ein Buch eingebundene, festgehaltene Welt.
Wir hatten einmal einen Schüler, der seinen Namensstempel auf jedes Land seines Atlasses drückte. Auf jeder Seite mehrmals fett aufgedruckt: „Max Breitenstein“ – als ob er sich all diese Länder zu Eigen machen wollte. Nicht nur Künstler, wie Albert Coers, gehen kreativ mit Lehrmitteln um; vielfach auch Schülerinnen und Schüler. Man muss hierzu nur die virtuosen Zeichnungen und Skizzen anschauen, welche in Lehrbüchern tagtäglich angebracht werden und die mit deren Inhalt meist nichts zu tun haben. Wunderbare Verzierungen, welche dem Lehrmittel eine Art Schippchen schlagen.
Und besonders lustvoll sind solche Kritzeleien, weil Lehrbücher etwas stark Normatives haben. Sie sind vielleicht das Normativste überhaupt in der Schule, wie dies der Bildungstheoretiker und Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach einmal gesagt hat. Sie sind dirigistischer und Norm-setzender als alle Lehrpläne, als alle Unterrichtskonzepte der Lehrerinnen und Lehrer. Die Lehrbücher sind das Nadelöhr, das ganz genau festlegt, was in die Köpfe der Lernenden muss. Sie sind das Zwangselement im Lernprozess und bei den Lernenden entsprechend verhasst. Von wie vielen stillen Kinder-Tragödien zeugen all die Lehrmittel, die Coers für seine Installation verwendet hat? Die Bücher haben die Angst- und die Verzweiflungsmomente der Kinder beim Lernen in sich aufgenommen; sie atmen diese Schülerangst noch, die jeweils aufkam, als der Lernstoff widerspenstig blieb und sich dem Lernen widersetzte. Die Lehrbücher atmen auch die unsägliche Langeweile unzähliger Generationen von Lernenden, welche stunden‑, tage‑, ja wochenlang über sie gebrütet und sich den Kopf an ihnen zerbrochen haben. Dass sich gerade am Disziplinierungsinstrument „Lehrbuch“ das Bedürfnis entzündet, spielerisch mit ihm umzugehen, ist gut nachvollziehbar.
Die Kunstobjekte von Coers leben unter anderem von diesem „Gebraucht-worden-Sein“ über Jahre und Jahrzehnte. Auch wenn sie seriell hergestellte Massenprodukte sind, hat jedes Exemplar die Geschichte seines Gebraucht-worden-Seins in sich aufgenommen und weist Spuren davon auf. So ist zwar jeder Schulatlas gleich wie alle anderen, und doch auch anders; auf seine ganz eigene Art anders. Ein Serienprodukt, ja, und doch auch, über die Jahrzehnte hinweg, ein Individuum geworden.
Lehrmittel, Lehrbücher, wir haben es gesehen, sind das eingrenzende Prinzip. Ohne Grenzen, zwischen Ländern, zwischen Wasser und Land, gibt es keine Atlanten. Die Installation verhält sich kontrapunktisch dazu. Sie ist ein Mittel der Entgrenzung. Sie hebt starre Grenzen auf, welche die Atlanten gezogen haben. Sie öffnet freie Räume. Coers’ Arbeit mit Atlanten ist ein kleines, aber doch weltumspannend grosses Projekt, sie greift in eine neue Welt hinaus und gibt unseren Assoziationen freien Raum. Assoziationen, die nicht nur, wie beim Navi, einem Weg folgen, sondern unendlich viele Wege gehen. Wege, die sich in verschiedenste Richtungen fortführen lassen.
Lehrmittel legen fest: Sie funktionieren nach dem Modus des „So ist es“. Die Installation von Coers strebt das Gegenteil an, den Modus des „Es könnte sein“, oder des „So könnte es auch sein“. […]
Mein unverbesserliches Harmoniebedürfnis zwingt mich, nicht nur über das nachzudenken, was uns, mich als Lehrer und Albert Coers als Künstler, im Umgang mit Lehrmitteln trennt, sondern was uns verbindet. Auf den ersten Blick gar nichts, denn der Umgang könnte ja bei uns beiden nicht unterschiedlicher sein. Und doch meine ich bei genauerer Betrachtung gewisse Gemeinsamkeiten zu erkennen. So macht es auf mich den Anschein, als würde Coers eine Art De-Kontextualisierung, eine De-Konstruktion der Lehrmittel vornehmen. Er löst sie aus ihrem Kontext des schulischen Lernens heraus und stellt sie in einen neuen Kontext. So befreit er sie von ihrer eigentlichen Funktion als festlegenden Lerninhalt und integriert sie in eine Kunst-Umgebung. Als Lernmittel haben sie ihre alltägliche Gebrauchsfunktion verloren. Genau dies erlaubt es ihnen, in der künstlerischen Auswahl und Verarbeitung ein überraschend neues Eigenleben zu entfalten.
Sie treten so auch in einen Bezug zum Ausstellungsraum. Damit wird eine neue Wahrnehmung auf den alten Gegenstand möglich. Ein frischer Blick, Assoziationen, neue Verknüpfungsmöglichkeiten, bei denen man sich als Betrachter, als Betrachterin zeitweise auch selbst überraschen kann.
Wenn ich mich etwas auf die Äste wage, könnte ich sagen, dass, bei uns in der Schule, während des Lernprozesses etwas Ähnliches passiert. Denn jeder Lernprozess ist, bei genauerer Betrachtung, eine Art De-Kontextualisierung und Re-Kontextualisierung: Der Lernende de-kontextualisiert den Lerninhalt, indem er ihn aus dem Lehrmittel herauslöst, und re-kontextualisiert ihn, indem er ihn in seine geistige Welt aufnimmt und ihn im Kosmos seines Wissens integriert. Auch er verknüpft also die aufgenommenen Inhalte neu. Und auch er verbreitert damit seinen Horizont.
Aber der genaue Weg dazu ist nicht wirklich sichtbar. Wie ich, bevor ich in diesen Ausstellungsraum hineinkam, keine Ahnung hatte, was Coers aus den Lehrmitteln gemacht hatte, wie also sein künstlerischer Prozess für mich eine Blackbox war, so habe ich als Lehrer letztlich auch keine Ahnung, was die Schülerinnen und Schüler mit dem Lehrmittel, das ich ihnen vorsetze, genau machen. Natürlich habe ich eine Vorstellung davon, was aus dem Lehrmittel konkret gelernt werden müsste. Aber was die einzelnen Lernenden davon aufnehmen, und wie sie es aufnehmen, bleibt für mich als Lehrer unverfügbar. Unverfügbar, weil jeder Mensch, den wir um uns haben, uns letztlich unverfügbar bleibt.
In diesem Punkt ähneln sich künstlerischer Prozess und Lernprozess: Bei beiden geht es um eine persönliche, um eine ganz individuelle Aneignung des Gegenstandes, mit dem sie sich beschäftigen. Es geht darum, diesem Gegenstand neues Leben zu geben. Und durch ihn selbst belebt zu werden.
Gute Kunst hat nie das letzte Wort. Ein solches gibt es in der Kunst ohnehin nie. Sie öffnet sich unserem Betrachten, Wahrnehmen, unserem Reflektieren, dem Miteinander-Austauschen und ‑Diskutieren über sie. „Die Phantasie stellt die Wirklichkeit vor die Augen“, hat der Zürcher Aufklärer Jakob Bodmer einmal gesagt. Und das bereits zweihundert Jahre vor dem Aufkommen des Konstruktivismus.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen phantasievollen und gewinnbringenden Besuch der wunderbaren Ausstellung von Albert Coers.