Albert Coers / Carsten Lisecki: TT
Galerie F6, Künstlerdorf Schöppingen
30.3. – 25.4.2021
Albert Coers und Carsten Lisecki, Stipendiaten der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, präsentieren Uminterpretationen von Alltäglichem und schaffen neue Denkräume. Dabei nutzen sie die Galerie als erweitertes Atelier, in dem wechselnd neue Arbeiten entstehen.
Albert Coers arbeitet mit Fundstücken und sprachlichem Material, u.a. aus der Bibliothek des Künstlerdorfs, die er sammelt und in raumbezogenen Installationen neu ordnet. Tischtennisschläger, Möbel, Bücher, Buchstaben fangen an, eigene Geschichten zu erzählen, etwa in der Raum- und Klanginstallation UMLAUTE (Ä, Ö, Ü, Æ, Å, Ø) und im Video Klepsydra.
Carsten Lisecki zeigt zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys aktuelle Neu-Interpretationen der Sozialen Plastik. Mit Klangkünstler Benedikt Surmund produziert der Raumtaktiker außerdem die K+K Land Dark Wave Performance über den Mythos regionaler Supermärkte, der Entrümpelung von Wallfahrtskapellen und Konferenzen an Tischtennisplatten.
Feuerstiege 6, 48624 Schöppingen
www.stiftung-kuenstlerdorf.de
Die Doppel-Buchstaben TT stehen für Tischtennis, damit für ein gemeinsames Interesse von Coers und Lisecki, aber auch für den Arbeitsmodus, in dem die Ausstellung entstand: in raschem Wechsel, im Hin- und Herspielen von Ideen und Gegenständen. Weiter lässt sich die nicht zuletzt in Corona-Zeiten adäquate Abstandshaltung des kontaktlosen Tischtennis bei gleichzeitiger Spielfreude auf die Ausstellung übertragen: sie ist als von außen einseh- und hörbar konzipiert. Die Arbeiten bewegen sich zwischen Innen und Außen, gehen über den Galerieraum hinaus.
Carsten Lisecki bezieht in TOR den Außenraum mit ein: Auf dem großen grünen Schiebetor vor der Fassade, das in der Farbe an eine Tischtennisplatte erinnert, sind sechs weiße Abdrücke sichtbar. Sie stammen von einem mit Kreide eingefärbten gefundenen Fußball, den Lisecki in rascher Folge gegen das Tor geschossen hatte. Es entsteht eine Serie von Frottagen, die eine Parabel zu bilden scheint und an Bewegungsfotografien erinnert. In der Sequenz und der unterschiedlichen Deutlichkeit der Abdrücke ist noch der Bewegungsmoment ablesbar Der Fußball ist im Innenraum getrennt von diesen Spuren auf einem Sockel präsentiert, die abgenutzte Kreide dient als Stopper.
An Wand im ersten Raum zeigt Coers im Video Klepsydra eine Situation in seinem Schöppinger Atelier: Unter den langsam tropfenden Wasserhahn des Waschbeckens ist ein Messbecher gestellt, dessen Füllstand den Verlauf von Zeit anzeigt, wie in einer im antiken Griechenland gebräuchlichen Wasseruhr. Zusammen mit einem modernen Messinstrument für Zeit, einer gefundenen Wanduhr, die auf den Wasserhahn gestellt ist, ergibt sich eine Doppelung verschiedener Mess-Systeme. Themen wie Zeitverläufe, ihre Repräsentation und Geräusch sind präsent.
Stellvertretend für die sozial-performative Serie von in Schöppingen entwickelten Arbeiten zeigt Lisecki ein Hemd, wie es Mitarbeiter des lokalen Supermarktes Klaas+Kock tragen. Eingestickt ist das Logo der Firma, das aus zwei Buchstaben besteht.
Liseckis Interesse für Marken und sein spielerischer Zugriff macht auch nicht Halt vor der Institution selbst, welche die Ausstellung ermöglicht, dem Künstlerdorf Schöppingen: er schlägt in einer Graphikserie und als Merchandiseartikel (Stoffbeutel) ein „Reenactment“ des Künstlerdorf-Logos vor (das 2021 tatsächlich durch ein Graphikbüro neu designt wird). Es ist auf sympathische Weise unzeitgemäß und besteht, was Lisecki aufgreift, aus gestischen Pinselstrichen, womit die bildenden Künstler repräsentiert sind, — und einem handschriftlichen Schriftzug für die Schriftsteller.
Ein Foto des beleuchteten KK- Logos projiziert Lisecki auf die Westwand des gegenüberliegenden „Kraftwerk“-Gebäudes und schafft so eine virtuelle Doppelung oder zweite Filiale des Supermarkts, erweitert die Ausstellung in den Stadtraum hinein.
Das Hemd wurde Lisecki als Geschenk überreicht, nachdem dieser vielfach sein Interesse für K+K und die dortigen Angestellten unter Beweis gestellt hatte. Es stellt so eine Verbindung von Künstlerdorf, Supermarkt und dem Ort Schöppingen her – ebenso wie eine gebrauchte professionelle Tischtennisplatte, die dem Künstlerdorf als Ersatz für eine alte auf Initiative Liseckis hin vom Tischtennisverein ASC Schöppingen geschenkt wurde.
Im mittleren Fenster der Galerie zeigt Coers einen Tischtennisschläger, Fundstück aus der Serie Schöppinger Schläger. Die Schläger tragen die Spuren jahrzehntelangen Gebrauchs. Funktionale Objekte werden zu etwas Anderem, bekommen etwas Malerisches. Im Fenster ist der Schläger wie in einer Vitrine präsentiert. Er fungiert auch als Repräsentant gemeinsamer Interessen und als Gelenkstelle zwischen beiden Ausstellungsräumen.
Im anschließenden Raum ist Coers’ Installation UMLAUTE (Ä, Ö, Ü, Æ, Å, Ø) zu sehen. In der Bibliothek des Künstlerdorfs fand er sechs Buchstaben-Karten mit Umlauten. Sie stammen von einem skandinavischen Hersteller für Bibliotheksbedarf – daher auch die im Deutschen ungewöhnlichen Zeichen – und dienen ursprünglich dazu, im Regal die alphabetische Ordnung zu markieren. In Alphabeten stehen sie als Sonderzeichen ganz am Ende – und wurden in der Bibliothek nie gebraucht. In die sechs Ringe an der Ostwand der Galerie gesteckt, die einst zum Festbinden von Rindern angebracht wurden, entfalten sie als schlauchförmige Objekte ein Eigenleben, lassen dabei an die Artikulation menschlicher und tierischer Laute und ihre Darstellung als Zeichen denken.
Ergänzt ist die Installation an beiden Fensterfronten (mit jeweils sechs Feldern) durch Folien und Fotokopien aus dem Atlas deutscher Sprachlaute, 1976 in Berlin-Ost erschienen, einem Buch, das Coers von einem befreundeten Künstler (Frank Herzog) nach Schöppingen geschickt wurde. Dargestellt ist die Artikulation durch Mund und Rachenraum, damit eine Zone, die aktuell gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt, nicht zuletzt bei Virentests, die 2021 im „Kraftwerk“-Gebäude durchgeführt werden, das der Galerie gegenüberliegt.
Zwei Lautsprecherboxen sind skulptural auf Sockeln vor einem geöffneten Fenster positioniert. So dringt aus der Galerie Sound nach draußen: Coers singt in freien Tonfolgen Umlaute und liest Beispielwörter auf dänisch und aus demSprachatlas, was eine dadaistisch anmutende Kombination von Wörtern ergibt. Darunter ist auch „Goethe“, von Albert Coers immer wieder als Beispiel für die Aussprache seines eigenen Nachnamens verwendet, der ebenfalls einen Umlaut beinhaltet. Insofern führt Coers hier indirekt die Auseinandersetzung mit seinem Namen fort, siehe „Wer ist Albert?“, 2021.
Im selben Raum wie UMLAUTE hängt ein Plakat von Carsten Lisecki, BÖREK 490. Es verweist auf die Aktion in einem Raum, der „Tenne“ im Hof der Künstlerateliers, in der Lisecki sein Auto parkte, Nummernschild BOR – EK 490. Die Buchstaben BOR stehen für den Landkreis Borkum, in dem auch Schöppingen liegt. Die Hinzufügung von Punkten (ursprünglich in Berlin geschehen) ließ aus dem lokalen Nummernschild den Namen eines internationalen türkischen Gerichts entstehen, das während der Aktion angeboten wurde, zusätzlich zu einer Karosserie-Lackpolitur und Tischtennis. Dass zufällig das „Ö“ zum Drehpunkt wird, lässt eine assoziative Verbindung zu Coers’ Arbeit zu Umlauten zu.
Mit Buchstaben spielt auch Coers’ Installation Letters, die zugleich eine Verbindung zum Außenraum herstellt. Im Künstlerdorfgefundene Buchstaben einer alten Druckerei sind so auf den Boden vor dem Nordfenster gestreut, dass sie die organisch-wuchernden Strukturen des Mooses aufnehmen, das außerhalb der Galerie wächst und so gleichsam in den Innenraum einzudringen scheint. Etwas Technisch-Artifizielles ist in naturhafte Nähe gerückt, seine definierte Bedeutung aufgehoben.
Aus dekontextualisierten Fundstücken mit Verweis auf Sprache und Buchstaben besteht auch Caret, eine Installation von etwa 12 stehenden und liegenden Ständern für Schallplatten. Coers hatte sie in der Bibliothek des Künstlerdorfs gefunden, die über eine umfangreiche, aktuell ausgelagerte Plattensammlung verfügt. Die winkelförmigen Objekte aus transparentem Kunststoff sind skulptural-architektonisch präsentiert, entwickeln im durchscheinenden Sonnenlicht auch farblichen Reiz. Darüber hinausgehend erinnern sie an Buchstaben bzw. an diakritische Zeichen, die eine bestimmte Aussprache anzeigen (Zirkumflex). Sie werden aber auch verwendet, um in einem Text fehlende, noch einzufügende Elemente zu markieren (lat. carere: fehlen). Sie sind ohne ihren Inhalt gezeigt und verweisen ähnlich wie die Karten mit Buchstaben auf die Bibliothek.
In Platten baut Coers einen skulpturalen Raumteiler aus Schallplatten. Er schirmt einen Raum ab, ergänzt gleichzeitig Caret.
Der Umgang mit den Fundstücken ist Beispiel für wechselseitige Anregungen unter den Künstlern bei unterschiedlichem Zugriff: Lisecki löst den in die Ständer eingeprägten Schriftzug „Schweizer Design – Made in Western Germany“ mittels Frottagen aus dem Kontext, verwandelt ihn in Grafiken und stellt so den Charakter der Objekte als (gestaltete) Waren heraus.
In einer weiteren Installation, die das Thema der Buchstaben und der Ordnung aufgreift, rekonstruiert Albert Coers die Bibliothek des Künstlerdorfs, mit Aufstellern, die dort mit eingesteckten Buchstaben die nach dem ABC geordneten Autorennamen markieren. Er verwendet die Originalobjekte- und Buchstaben aus der Bibliothek, die er durch Kopien aus Karton und Fotokopien ersetzt hat. Die Abstände der Buchstaben im Regal sind beibehalten. Es entstehen Leerräume.
Albert Coers / Carsten Lisecki: TT
Albert Coers and Carsten Lisecki, fellows of the Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, present reinterpretations of the everyday and create new spaces for thought. In doing so, they use the gallery as an extended studio in which new works are created on a rotating basis.
Albert Coers works with with found objects and linguistic material, among other things from the library of the artists’ village, which he collects and rearranges in space-related installations. Table tennis bats, furniture, labels, books, letters begin to tell their own stories, for example in the site specific installation UMLAUTE (Ä, Ö, Ü, Æ, Å, Ø) (with sound) and in the video Klepsydra.
www.albertcoers.com
On the occasion of the 100th birthday of Joseph Beuys, Carsten Lisecki shows current new interpretations of the social sculpture. With sound artist Benedikt Surmund, the Raumtaktiker also produces the K+K Land Dark Wave performance about the myth of regional supermarkets, the de-cluttering of pilgrimage chapels and conferences at ping-pong tables.
www.lisecki.com
The double letters TT stand for table tennis, thus for a common interest of Coers and Lisecki, but also for the working mode in which the exhibition was created: in rapid alternation, playing back and forth of ideas and objects. Furthermore, the spacing attitude of non-contact ping-pong, not least in Corona times, with simultaneous playfulness, can be transferred to the exhibition: it is conceived as being visible and audible from the outside. The works move between inside and outside, going beyond the gallery space.
In TOR, Carsten Lisecki incorporates the outside space: On the large green sliding gate in front of the façade, whose colour is reminiscent of a ping-pong table, six white imprints are visible. They come from a found soccer ball dyed with chalk, which Lisecki had shot against the gate in rapid succession. A series of frottages emerges that seems to form a parable and is reminiscent of photographs of movement. In the sequence and the varying distinctness of the prints, the moment of movement can still be read The soccer ball is presented in the interior separately from these traces on a pedestal, the worn chalk serves as a stopper.
On the wall in the first room, Coers shows a situation in his Schöppingen studio in the video Klepsydra: a measuring cup is placed under the slowly dripping faucet of the sink, the level of which indicates the passage of time, as in a water clock commonly used in ancient Greece. Together with a modern measuring instrument for time, a found wall clock placed on the faucet, the result is a duplication of different measuring systems. Themes such as the passage of time, its representation, and sound are present.
Representative of the social-performative series of works developed in Schöppingen, Lisecki shows a shirt as worn by employees of the local supermarket Klaas+Kock. Embroidered on it is the company’s logo, which consists of two letters.
Lisecki projects a photo of the illuminated logo onto the west wall of the “Kraftwerk” building opposite, creating a virtual duplication or second branch of the supermarket, extending the exhibition into the urban space.
The shirt was given to Lisecki as a gift after he had demonstrated his interest in K+K and the employees there many times. It thus establishes a connection between the artists’ village, the supermarket and the town of Schöppingen — just like a used professional table tennis table, which was donated to the artists’ village as a replacement for an old one on Lisecki’s initiative by the ASC Schöppingen table tennis club.
In the middle window of the gallery Coers shows a table tennis bat, found object from the series Schöppinger Schläger. The bats bear the marks of decades of use. Functional objects become something different, get something painterly. In the window the bat is presented as in a showcase. It also functions as a representative of common interests and as a point of articulation between the two exhibition spaces.
In the adjoining room, Coers’ installation UMLAUTE (Ä, Ö, Ü, Æ, Å, Ø) can be seen. In the library of the artists’ village he found six letter cards with umlauts. They come from a Scandinavian manufacturer of library supplies — hence the unusual characters in German — and were originally used to mark alphabetical order on the shelf. In alphabets, they are placed at the very end as special characters — and were never used in the library. Placed in the six rings on the east wall of the gallery, which were once used to tie up cattle, they unfold a life of their own as tubular objects, suggesting the articulation of human and animal sounds and their representation as signs.
The installation on both window fronts (with six fields each) is supplemented by transparencies and photocopies from the Atlas of German Speech Sounds, published in Berlin East in 1976, a book that Coers was sent to Schöppingen by an artist friend (Frank Herzog). Depicted is articulation through the mouth and throat, thus a zone that is currently receiving increased attention, not least in viral tests that will be conducted in 2021 in the “Kraftwerk” building that faces the gallery.
Two loudspeaker boxes are sculpturally positioned on pedestals in front of an open window. Sound thus penetrates from the gallery to the outside: Coers sings umlauts in free sound sequences and reads sample words in Danish and from the language atlas, resulting in a Dadaist-like combination of words. Among them is “Goethe,” repeatedly used by Albert Coers as an example of the pronunciation of his own last name, which also contains an umlaut. In this respect, Coers here indirectly continues the argument about his name, see “Who is Albert?”, 2021.
In the same room as UMLAUTE hangs a poster by Carsten Lisecki, BÖREK 490. It refers to the action in a room, the “Tenne” in the courtyard of the artists’ studios, where Lisecki parked his car, license plate BOR — EK 490. The letters BOR stand for the district of Borkum, in which Schöppingen is also located. The addition of dots (originally done in Berlin) turned the local license plate into the name of an international Turkish dish that was offered during the action, in addition to car polish and table tennis. That the “Ö” happens to become the pivot point allows for an associative connection to Coers’ work on umlauts.
Coers’ installation Letters also plays with letters, at the same time establishing a connection to the outside space. Letters from an old printing press found in the artists’ village are scattered on the floor in front of the north window in such a way that they take up the organic proliferating structures of the moss that grows outside the gallery and thus seems to invade the interior space, as it were. Something technically artificial has been moved into natural proximity, its defined meaning suspended.
Caret, an installation of stands for records, also consists of decontextualized found objects with references to language and letters. Coers had found them in the library of the artists’ village, which has an extensive record collection currently in storage. The angular objects made of transparent plastic are presented in a sculptural-architectural manner, and also develop a colourful charm in the translucent sunlight. In addition, they are reminiscent of letters or diacritical marks indicating a particular pronunciation (circumflex/caret). But they are also used to mark missing elements in a text that are yet to be inserted (lat. carere: missing). They are shown without their content and refer to the library in a similar way as cards with letters.
The handling of the found objects is an example of mutual stimulation among the artists with different access: Lisecki uses frottage to detach the paradoxical lettering “Swiss Design — Made in West Germany” embossed in the stands from its context, transforming it into graphics and thus highlighting the character of the objects as (designed) goods.
In another installation, Albert Coers reconstructs the library of the artists’ village, with stands that mark the names of authors there with inserted letters, arranged according to the ABC. He uses the original objects and letters from the library, which he has replaced with copies made of cardboard and photocopies. The spacing of the letters on the shelf is maintained. Empty spaces are created.