Beim Aufräumen fiel mir im Schlafzimmer ein Buch in die Hand: zerfleddert, auseinandergefallen, der Rücken hat sich gelöst: „SPRECHEN SIE RUSSISCH“ von S.A. Chawronina. Es war der Tag im Februar 2024, als ich vom Tod Alexander Nawalnys in einem russischen Gefängnis erfuhr. Ich erinnerte mich an die Versuche, Russisch zu lernen – und meine Beziehung zu dieser Sprache.
Das Buch bekam ich 2001 im Kurs „Russisch für Nichtslawisten“ an der Uni München; eine Fortsetzung, ich hatte schon 1999 mit Russisch angefangen – die vage Idee im Kopf, ein oder mehrere Semester an der Kunstakademie in Sankt Petersburg zu studieren.
Im Herbst 1999 fuhr mit dem Zug dorthin, besuchte für einige Wochen einen Sprachkurs, wohnte bei einer Familie in einem Plattenbau. Danach nach Moskau, über Finnland mit dem Zug über Schweden zurück. Eine großartige Erfahrung insgesamt — auch wenn ich die Idee, länger in Petersburg zu studieren (leider?) nicht umsetzte, da mir die Akademie zu starr-traditionell, Stadt und Staat zu sehr von Polizei und Militär dominiert und die bürokratischen Hürden zu hoch schienen.
Danach wurde das Interesse und die Bemühung, Russisch zu lernen, geringer; war zwar nie ganz weg, trat aber in den Hintergrund. Sehr weit bin ich nicht gekommen, und vieles habe ich vergessen. Aber es reichte, um später auf der Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn mit Mitreisenden einige Sätze wechseln zu können, mit einem Taxifahrer in Georgien — oder mit russischsprachigen Ukrainern, die nach Deutschland geflüchtet sind, wie neulich im Zug.
Seitdem Russland den Krieg gegen die Ukraine am 24.2.22 zu einer umfassenden Invasion ausgeweitet hat — zwei Jahre ist das her, als ich diesen Text schreibe — habe ich Bücher und Unterlagen wieder hervorgeholt. Ich wollte zunächst besser verstehen, was in russischen Medien zu hören und zu lesen war.
Und Russisch mag ich als Sprache immer noch, auch wenn sie durch die gegenwärtige, aggressiv-imperialistische Politik Russlands diskreditiert scheint – ähnlich, wie es Deutsch zur Zeit des NS-Regimes war …
In diesem Zusammenhang hatte ich auch das Lehrbuch wieder vorgenommen — das sich jetzt unter meinen Händen auflöst.
Beim Titel „SPRECHEN SIE RUSSISCH“ ist zunächst offen, ob er als Frage oder als Aufforderung gedacht ist, da ein Satzzeichen, ein Frage – oder Ausrufezeichen fehlt. Im Licht gegenwärtiger Sprachpolitik der Russifizierung fällt mir diese Doppeldeutigkeit erst auf.
Ein Reiz des Buches ist, dass es in eine Welt zurückführt, die es in den 2000er Jahren so nicht mehr gab — und heute, 20 Jahre später, noch viel weniger: die der UdSSR. Man könnte sagen, im Zerfall des Buches spiegelt sich der der Sowjetunion wider. Hier tauchen auch inzwischen obsolet gewordene Bezeichnungen, Wörter auf, die mit dem Gesellschaftssystem zu tun haben, z.B. der “Genosse (Towarisch) Milizionär”. Der hier natürlich nicht als Überwacher und Unterdrücker auftritt, sondern als Freund und Helfer, den man nach dem Weg zum Theater fragt.
Es ist eine typische, schöne, geordnete Welt, ohne Probleme, die Welt der 1970er Jahre in Moskau, illustriert mit ansprechenden, idealisierenden Strichzeichnungen. Es vermittelt ein positives Bild von Land, Leuten und Gesellschaft. Verständlich: Jedes Lehrbuch ist gleichzeitig eine Werbung für Sprache und Land.
“Etwas über sich selbst”
Das erste Kapitel stellt, wie häufig in Sprachlehrbüchern, einen Protagonisten vor, mit dem man sich dann identifizieren soll. Unter der Überschrift “Etwas über sich selbst” erzählt er in der 1. Person seinen Lebensweg, geradlinig und typisch: Er ist in Moskau geboren und hat immer dort gewohnt. Frühes Interesse für Chemie, nach der Schule Uni, nach fünf Jahren Studienabschluss, danach Arbeitsbeginn in einer Fabrik. Heirat im vergangenen Jahr. Eines folgt logisch auf das andere.
Darin weicht er schon sehr stark von meinem eigenen ab: Keine Brüche, keine Auslandsaufenthalte, keine Umzüge, keine Wechsel der Studienfächer.
Dieser generische, musterhafte Lebenslauf erinnert mich an meine Versuche, mit ChatGPT eigene CVs zu kreiren. Auch dort waren Lebensläufe nach dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit das Ergebnis.
Über den Text legen sich meine Anmerkungen, Markierungen, Unterstreichungen, auch Zeichnungen. Das Nachschreiben, Nachmalen der kyrillischen Buchstaben, um v.a. die Kurrentschrift nachahmend zu erlernen.
Doch daneben steckt darin auch der Versuch, aus dem Lehrbuch etwas Individuelles zu machen, sich einzuschreiben, das Buch sich anzueignen.
Das Buch ist übrigens 1975 erschienen – in meinem Geburtsjahr; es würde also auch in die Serie „’75“ in Books to Do passen.