Jour­nal Berlin-Warschau

4.8.24, Sonn­tag

Am Vor­tag der Abfahrt nach War­schau noch ein­mal Muse­ums­tag — und uner­war­te­te Ein­stim­mung auf die Rei­se nach Ost­eu­ro­pa durch einen Auf­ent­halt im Ber­li­ner Osten: Nach­dem die Cas­par-David-Fried­rich-Aus­stel­lung in der Alten Natio­nal­ga­le­rie über­füllt ist (let­zer Tag und kos­ten­lo­ser Muse­ums-Sonn­tag), zum Sta­si-Muse­um in Lich­ten­berg. Dort war ich noch nie.

Ori­gi­nal-Archi­tek­tur, mit dem pavil­lon­ar­tig über­bau­ten Ein­gangs­be­reich aus orna­men­ta­len Beton­ele­men­ten – die, wie man spä­ter erfährt, nicht zuletzt der Abschir­mung der Ankom­men­den gegen Bli­cke dien­ten. Sehr viel auch von der Möblie­rung noch im bau­zeit­li­chen Zustand der 1950er/60er Jah­re. Das Haus wird so gleich­zei­tig zum Archi­tek­tur- und Design­mu­se­um und übt so einen – unge­plan­ten – Reiz aus. Da wäre inter­es­sant, inwie­fern sich das Ost-Design sich vom zeit­glei­chen im Wes­ten unter­schied, oder ab wann sich da ein eige­ner Stil ent­wi­ckel­te. Viel­leicht noch mehr Hang zum Kon­struk­ti­ven, Gerad­li­ni­gen, wäh­rend es im „Wes­ten“ eher run­de, geschwun­ge­ne For­men waren, sie­he die Nie­ren­ti­sche etc. Funk­tio­na­le Ele­men­te neben reprä­sen­ta­ti­ven, z.B. Schie­be­wän­de, gestaf­felt hin­ter­ein­an­der, für die Prä­sen­ta­ti­on von Land­kar­ten. Wuch­ti­ge Ses­sel, mit leuch­tend blau­en Bezü­gen, in denen man sich die MfS-Funk­tio­nä­re bei ihren Sit­zun­gen gut vor­stel­len kann.

Obwohl man bereits viel weiß: Der Umfang der Büro­kra­ti­sie­rung, Kata­lo­gi­sie­rung, Archi­vie­rung der Beob­ach­tun­gen und Unter­la­gen über die Obser­vier­ten doch ganz erstaun­lich, v.a. im Sta­si-Unter­la­gen-Archiv gegen­über. Aus­stel­lung über Betrof­fe­ne, z.B. Gil­bert Radu­lo­vic, einen dama­li­gen Jugend­li­chen, der Kon­takt zur Anarcho- und Punk-Sze­ne hat­te, ein Heft­chen zusam­men­stell­te, und mas­si­ve Pro­ble­me bis zur Gefäng­nis­haft bekam.

Ein­zel­ne Objek­te, z.B. die dreh­ba­ren Akten­schrän­ke mit Kar­tei­kar­ten, die an die mit­tel­al­ter­li­chen Buch­müh­len erin­nern; eine Samm­lung von Post­kar­ten, die abge­fan­gen und ein­be­hal­ten wur­den – mit her­aus­ge­schnit­te­nen und somit sepa­rat gesam­mel­ten Briefmarken!

Blick ins Gäs­te­buch: Der all­ge­mei­ne Kom­men­tar „sehr schön!“ for­dert eine kri­ti­sche Replik her­aus: „Wo ist da eine Schön­heit zu sehen?“


Kon­ti­nui­tä­ten der Sta­si mit dem russisch/sowjetischen Geheim­dienst, auch in der Bezeich­nung „Tsche­kist“ für die Mit­ar­bei­ter, v.a. in den 50er-70er Jah­ren. Inso­fern gute Ein­stim­mung auf die Rei­se wei­ter nach Osten, nach Polen und Litau­en, wo ähn­li­che Über­wa­chung und Drang­sa­lie­rung herrschte.

Ins Palais Popu­lai­re und den Ham­bur­ger Bahn­hof. Dort noch­mal in der Aus­stel­lung von Alex­an­dra Piri­ci. Dies­mal sind Per­for­me­rin­nen aktiv; den Gesang fin­de ich gut, da er so bei­läu­fig daher­kommt; das Rie­seln­las­sen von Sand durch die Hän­de auch, da sehr ein­fach. Das Her­un­ter­rol­len vom Sand­hü­gel hat dage­gen schon mehr Thea­tra­li­sches.
Buch­hand­lung König. Kata­log von Clau­dia Wie­ser liegt aus, wie ich nei­disch fest­stel­le. Kau­fe einen Band von Roland Bar­thes „Mythen des All­tags“, für die Zug­fahr­ten, die uns erwar­ten. Schon beim Hin­ein­le­sen sprin­gen die The­sen und geist­rei­chen Beob­achun­gen einem nur so entgegen.

5.8. Mon­tag

Sehr früh auf, bereits um 3.30. Trotz­dem durch­zuckt mich beim Läu­ten des Weckers Erin­ne­rung an ange­neh­men Traum. Fahrt nach War­schau mit zahl­rei­chen Zwi­schen­sta­tio­nen, da aus irgend­wel­chen Grün­den kei­ne Direkt­ver­bin­dung mög­lich ist: Tram von der Osloer­str. zur War­schau­er­str., dann S‑Bahn nach Erkner (mit ner­vös flir­ren­der defek­ter Anzei­gen­ta­fel), Regio­nal­zug nach Frankfurt/Oder, von dort aus end­lich EC. Ankunft gegen 11.30.

Hotel Tif­fi, zen­tral in der Alt­stadt, gegen­über der alten Uni­ver­si­tät, neben der Kunst­aka­de­mie und einer gut­sor­tier­ten Buch­hand­lung. Über die Lage hin­aus groß­zü­gi­ge Räu­me. Mit der Ein­rich­tung lässt sich sofort spie­len, sie bie­tet Mög­lich­kei­ten anzu­do­cken: die Socken kann man auf einen Lam­pen­schirm zum Lüf­ten legen; die Klei­der ver­tei­len. Das Bügel­brett, das sich im Schrank auf­ge­hängt fin­det, hat skulp­tu­ra­le Qua­li­tä­ten, erin­nert an einen Ste­le mit Mas­ke. Eine Land­kar­te von Polen lässt sich per Klei­der­bü­gel (mit Klam­mern unten) über den Bild­schirm hän­gen. Das Hotel­zim­mer als Ate­lier­raum, als Fun­dus, mit dem man, in dem man arbei­ten kann.

Zu einem der vor­ge­merk­ten Haupt­zie­le, dem neu­eröff­ne­ten Muse­um POLIN, hin­ter dem Denk­mal für Kämp­fer des War­schau­er Auf­stan­des.
Wir sind lan­ge im Muse­um, bis zur Schlie­ßung um 18 Uhr. Es gibt sehr viel zu sehen, zu lesen und zu ent­de­cken, ange­fan­gen von der Geschich­te der Juden (und damit auch Ost­eu­ro­pas und Polens ins­ge­samt) im Mit­tel­al­ter über die Neu­zeit bis immer näher zur Gegen­wart mit den zio­nis­ti­schen Bestre­bun­gen in den 1920ern – und dann, sehr plötz­lich, dem Angriff der Deut­schen, dem Holokaust.

Zufäl­lig sind wir wie­der Anfang August hier, zu den Jah­res­ta­gen des War­schau­er Auf­stands. Über­all rot-wei­ße Bin­den mit den Far­ben Polens, Rot-Weiß, so auch am Denk­mal. Über­all Gedenk­ta­feln, davor Ker­zen und Blumen.

Ich fan­ge dann an, in der gan­zen Stadt Rot-Weiß zu sehen, auch in den Stopp­schil­dern, den Bau­stel­len­ab­sper­run­gen, den Schil­dern mit „Durch­fahrt ver­bo­ten“. Es lie­ße sich eine Foto­se­rie mit dem The­ma „Rot-Weiß“ machen.

Sehe auf dem Rück­weg zum Hotel auch ein Absperr­band in Blau-Weiß, mit der Auf­schrift „POLIC­JA“, zwi­schen einer Hof­ein­fahrt und einem Park­au­to­ma­ten über den Geh­weg gespannt. So eines habe ich mal in Rom gese­hen, in Tras­te­ve­re, mit der ent­spre­chen­den Auf­schrift “POLI­ZIA” und etwas davon mit­ge­nom­men. Hier reizt es mich auch, zumal es etwas Ver­bo­te­nes hat — bei nur gerin­gem Ein­griff in den öffent­li­chen Raum.
Im Hotel mache ich damit eine Serie von Instal­la­tio­nen, ange­fan­gen mit dem Spie­gel, über den ich es quer span­ne, bis zum Bett, zur Dusche, die ich so absper­re, zum Tat­ort wer­den lasse.

All­zu­viel Zeit habe ich nicht für die Instal­la­tio­nen, was aber auch gut ist, da so das tem­po­rä­re Moment erhal­ten bleibt.
Wir sind nur eine Nacht hier, mor­gen soll es wei­ter nach Bia­lys­tok gehen.

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