2021 ist Horst Sauerbruch gestorben, Maler und Professor an der Münchner Kunstakademie.
Bevor ich ihm selbst begegnete, kannte ich eines seiner Bilder: Bei meinen Eltern im Treppenhaus hängt eines, ich habe es an den Weihnachtsfeiertagen wieder gesehen. Es ist nicht das Original, sondern eine Reproduktion, etwa 50 x 50 cm groß – doch der Unterschied spielte für mich keine Rolle: „Die große Kuppel“, mit den schwarzen, linear-konstruktiven Linien eines Baugerüsts, aufgerichtete um eine Kuppel in Gelb und Rot, begleitet von feinen waagrechten und senkrechten Linien des Hintergrundes, aber alles so, dass nichts schematisch, unbedingt symmetrisch ist, sondern frei, mit erkennbarer Freude am Spiel mit dem Gegenstand, was vielleicht an einen Paul Klee erinnert. Es ist ein Bild, das Lust auf Malerei und Architektur zugleich macht (die Affinität zur Architektur steht in Wechselwirkung mit seiner Umgebung: der Architekt Matthias Sauerbruch ist sein Bruder).
Neben dem Bild hängen kleine Aquarelle, die mein Vater in Rom gekauft hat, und auf dem ebenfalls Kuppeln zu sehen sind. Erst später erfuhr ich, dass Horst Sauerbruch in Rom auf die Welt kam, und so die Hängung unbeabsichtigt auch eine biographische Beziehung herstellte.
Kürzlich habe ich mich an das Bild wieder erinnert, genauer hingesehen und bemerkt: er ist von Sauerbruch signiert, zurückhaltend, mit Bleistift, datiert mit 1974, zufällig ein Jahr, bevor ich geboren wurde. Mein Vater hat erzählt, dass der Künstler Teilnehmer eines Lehrgangs für Kunsterzieher bei ihm war, Anfang der 1970er muss das gewesen sein. Ihm gefiel das Bild so gut, dass er es auf eine Holzplatte aufziehen und signieren ließ – wodurch es gesteigerte Präsenz bekam, noch mehr Persönliches und eine auf dem Druck nicht vorhandene zeitliche Einordnung.
Erst sehr viel später lernte ich Horst Sauerbruch selbst kennen, an der Akademie in München. Obwohl kein eingeschriebener Student in seiner Klasse, fühle ich mich ihm doch eng verbunden – wie viele, die ihm begegnet sind. Er versprühte Lebensfreude, hatte eine Art, einen ernstzunehmen, dabei auch herauszufordern, zu hinterfragen, Urteil, Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen, Wohlwollen.
Er war der erste, der damals meine Mappe bei der Vorbesprechung zur Bewerbung begutachtete – oder besser, mein Material: Ich hatte Skizzenbücher aufgetürmt, Zeichenblöcke, ein Haufen Zeug. Ich hatte alles gezeichnet, was mir unter die Augen gekommen war, was mir irgendwie interessant erschien, Architektur, Natur, Bilder und Skulpturen in Museen, Menschen während der Zugfahrt, mich selbst. Er blätterte interessiert, doch dann immer schneller. Die Fülle des Materials, der rasche Wechsel der Orte, Themen und Gegenstände, die Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit forderten ihn zu kritischem Kommentar heraus: „Hier sind Sie – und da sind Sie schon wieder weg. Sollen wir sie in einen Raum sperren, nur mit einem Blatt und einem Stift, damit sie mal dableiben, dranbleiben?“ Die Empfehlung von Konzentration, von sich Einlassen, Zeitnehmen für ein Thema, das habe ich von der Begegnung mitgenommen – und denke immer wieder daran.
Ich ging dann doch nicht in seine Klasse, da ich mehr zur Bildhauerei tendierte; wir blieben aber in Kontakt, etwa über die Veranstaltung „Erklärendes Zeichnen“: Es gab ein Thema, das einen weiten Interpretationsspielraum bot, zu dem Beiträge an die Wand gehängt und besprochen wurden. Etwa das Thema „täglich“, zu dem ich mich beim Rasieren zeichnete – so intensiv und konzentriert, wie seither kaum mehr.
Einige Semester später, ich war inzwischen in Italien gewesen, traf ich ihn wieder, eine kurze Begegnung im Treppenhaus – für die er sich aber Zeit nahm. Er fragte, ob ich immer noch so nervös zeichnete, ich berichtete von verschiedenen Projekten, und er meinte klarsichtig, die eine wichtige Arbeit an der Akademie, die hätte ich aber noch nicht gemacht. Das stimmte, die kam dann erst mit der Installation „Collezione privata“, 2002. Das auch ein Hinweis auf noch zu leistende Fokussierung.
Das Sprechen über die Arbeit, über Bilder, was einen dann häufig persönlich in seiner Lebenswelt und seinem Verhalten berührte, das verbinde ich mit Horst Sauerbruch, und damit auch mit seiner Klasse. Bei Klassenbesprechungen war ich überrascht von den lebhaften Diskussionen, vom kritischen Geist der Studenten, die sich teils hart angingen – während sich der Professor eher im Hintergrund hielt. Das kannte ich von der Klasse, in der ich damals war (Heribert Sturm) so nicht, dort waren die Besprechungen auf die zentrale Figur des Professors orientiert, und es gab wenig gegenseitige Kritik. Erstaunlich auch der „Klassengeist“, der Zusammenhalt.
Es ergaben sich Bekanntschaften, gemeinsame Projekte, Freundschaften, unter anderem mit Sebastian Pöllmann, Felix Lampadius, Gerhard Schebler, Matthias Wohlgenannt, Fabian Schleicher, mit Michaela Rotsch. Und es war wohl kein Zufall, dass der Professor, bei dem ich dann hauptsächlich studierte, Albert Hien, ebenfalls in der Klasse Sauerbruch und sein Assistent gewesen war.
Mit der Klasse war ich auf einer Exkursion in London, das muss etwa 2003 gewesen sein, als Ersatz für eine Studentin, die nicht mitkonnte. Ich erinnere mich, wie wir in der National Gallery vor einem Vermeer standen, und Sauerbruch auf den in den Bildraum führenden Stuhl im Vordergrund aufmerksam machte. Er war immer Lehrer — ohne lehrerhaft zu wirken.
Ich machte mich bei der Übernachtung selbständig und kam bei der Abreise spät am Treffpunkt an. Die anderen waren schon weg, eine Nachricht von Sauerbruch hing an der Tür. „Was fürs Poesiealbum!“ meinte Gerhard Schebler, damals Assistent. Am Flughafen gab es weiteren trouble: Die Fluggesellschaft wollte mein Ticket nicht anerkennen, da die Namen der Passagiere nicht übereinstimmten. Da kaufte Sauerbruch kurzerhand ein neues, aus eigener Tasche.
Im Akademiegebäude, ganz oben bei den Bühnenbildnern, stand ein Flügel, steht vielleicht immer noch dort. Man konnte sich gegen Hinterlegung des Studentenausweises den Schlüssel zu dem Raum geben lassen und spielen – eine fantastische Möglichkeit, von der ich öfters Gebrauch machte. Einmal begegnete ich auf dem Weg herunter, wiederum auf der Treppe, Horst Sauerbruch – und erfuhr, dass er es war, der den Flügel gestiftet hatte.
Seitdem sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, doch wir blieben in lockerem Kontakt, nicht zuletzt durch Drucksachen, vor allem Postkarten, mit denen Sauerbruch gern kommunizierte, in seiner klaren, bewegten Handschrift. Auf einer war auch „Die große Kuppel“ abgebildet – wir hatten darüber gesprochen.
Im Herbst 2021 ist Horst Sauerbruch unerwartet verstorben. Es freut mich, dass ich bei einer Ausstellung im Sommer, in Bad Aibling, wohl seiner letzten, ein Bild von ihm gekauft habe. Es ist kleinformatig, intim. Titel „dicht“, von 2020, locker, spielerisch gesetzte, leuchtende Farbtupfer, die sich umkreisen, überlagern. Es ist abstrakter als das Kuppel-Bild von 1974, in mehrerer Hinsicht freier, die Palette aber ähnlich, auch das Interesse für Verdichtungen. Und ich glaube, dass sich — wiederum — die Energie des Malers in ihm mitteilt.